Die Republik der Opfer

Nicht nur im „Altreich“, auch in der „Ostmark“ wird derzeit an die Vergangenheit erinnert. Doch die Österreicher sehen sich noch immer als Opfer, nicht Mittäter deutscher Verbrechen. Das hat Folgen

AUS WIEN RALF LEONHARD

Ob es im Dritten Reich wirklich Gaskammern zur Judenvernichtung gegeben habe, das müsse man mal „wissenschaftlich und physikalisch prüfen“, meinte der FPÖ-Bundesratsabgeordnete John Gudenus in einer Fernsehsendung. Sein Kollege Siegfried Kampl von der FPÖ-Nachfolgepartei BZÖ echauffierte sich über die „brutale Naziverfolgung“ nach Kriegsende. Eine Rehabilitierung von Deserteuren der Wehrmacht lehnte Kampl ab, denn die seien „zum Teil Kameradenmörder“ gewesen.

Gudenus und Kampl sind beispielhafte Biografien, Österreicher aus nationalsozialistischem Elternhaus, die die braune Ideologie schon mit der Muttermilch gefüttert bekamen und sich nur deswegen nicht häufiger zu Wort melden, weil Verbotsgesetze und Parteidisziplin sie in die Schranken weisen.

Gudenus wurde vor zehn Jahren wegen ähnlicher Äußerungen schon einmal aus dem Nationalrat geworfen. Auf Druck aller Parteien. Aber dann wurde er – auch mit den Stimmen der regierenden ÖVP von Bundeskanzler Wolfgang Schüssel – in den Bundesrat gewählt, der als Vorhof zur Rente gilt und teilweise einem Gruselkabinett politischer Dinosaurier gleicht.

Kollege Kampl war vorgesehen, am 1. Juli den Vorsitz des Bundesrates zu übernehmen. Weil Österreich an diesem Tag in die sogenannte Troika des EU-Rates rotiert, ist Kampl nach einer geballten Überredungsaktion seiner Parteigenossen „aus freien Stücken“ zurückgetreten. Denn ein Ewiggestriger im protokollarisch dritthöchsten Amt der Republik hätte in Europa keinen guten Eindruck gemacht.

„In unserer Institutionenlandschaft“, tadelte Schüssel, hätten solche Leute keinen Platz. Allerdings meinte er damit den FPÖ-Mann Gudenus, nicht Kampl vom Koalitionspartner BZÖ.

Also: Warum finden sich solche Leute immer noch in politischen Ämtern? Und warum verlief in Österreich die Aufarbeitung der Geschichte, von Bürgerkrieg 1934, Austrofaschismus, Anschlussbegeisterung 1938 und der Beteiligung an Nazigräueln so viel zäher als der vergleichbare Prozess in Deutschland?

Weil Österreich sich als erstes Opfer Hitlers begriff, nicht als williger Mittäter. Diese Lebenslüge der Zweiten Republik wurde erst in den Achtzigerjahren in Frage gestellt, als mit Kurt Waldheim zwar kein Kriegsverbrecher, aber doch ein Verdränger Bundespräsident wurde.

Die Entnazifizierung der 550.000 NSDAP- oder SS-Mitglieder vollzog sich in nur wenigen Monaten. Schon 1948 durften die „Ehemaligen“ wieder politisch aktiv werden. Im eigens gegründeten Verband der Unabhängigen (VDU) fanden sie ihre politische Heimat – der VDU ist die Vorgängerorganisation der FPÖ.

Aber auch ÖVP und SPÖ öffneten sich bereitwillig für ein Wählerpotenzial von mindestens 700.000 Stimmen. Erst vor kurzem veröffentlichte wenigstens die SPÖ eine Studie, wonach alte Nazis über den Bund Sozialistischer Akademiker wieder zu honorigen Mitgliedern der Gesellschaft mutieren konnten. Von der ÖVP wurde ein derartiger Versuch der Selbsterkenntnis noch nicht unternommen.

Mitglieder von „Gesinnungsgemeinschaften“ wie FPÖ oder BZÖ verstehen ihr Bekenntnis zur alten Ideologie immer noch als Prinzipientreue, nicht als Verstocktheit. Radikale Neonaziparteien konnten in Österreich nie Fuß fassen, weil sich die echten alten und neuen Nazis im pseudobürgerlichen Ghetto aus FPÖ, Burschenschaften oder Vertriebenenverbänden bestens aufgehoben fühlten. Dort bescheinigte Jörg Haider SS-Veteranen, „anständige Menschen“ zu sein, „die ihrer Überzeugung bis heute treu geblieben sind“.

Bedenklich ist, dass diese Partei 1999 von fast 27 Prozent der Wählerschaft zur zweitstärksten Kraft gemacht wurde. Denn mit der Regierungsbeteiligung der FPÖ gelangten die Unverbesserlichen nicht nur in die Vorzimmer der Ministerbüros, sie durchsetzten bald auch die Führungsetagen staatsnaher Unternehmen und die Universitäten.

Die ultrarechte Wochenschrift Zur Zeit des ehemaligen Haider-Beraters Andreas Mölzer, um nur ein Beispiel zu nennen, hat noch vor kurzem die „Weltherrschaft des Judentums“ als größtes Übel der Menschheit ausgemacht. Seit der Wende und damit der Koalition aus ÖVP und FPÖ bekommt Mölzer eine saftige Vertriebsförderung vom Bundeskanzleramt. Und der Bundeskanzler selbst preist Haider als „konstruktiven Politiker“, weil er ohne ihn nicht regieren könnte.

2005 ist auch in Österreich das Jahr der Gedenkfeiern, der Erinnerung an 60 Jahre Zweite Republik, an 50 Jahre Staatsvertrag, 50 Jahre Ende der Besatzungszeit, 10 Jahre EU-Mitgliedschaft und 50 Jahre Neutralität. Dass ihm nun ausgerechnet im „Gedankenjahr“ (Wolfgang Schüssel) politische Irrlichter die Feierstimmung verhageln, hat sich der Bundeskanzler alleine zuzuschreiben. Er selbst hat nach diesen bösen Geistern gerufen, um sie mit dem Prädikat der Regierungsfähigkeit zu adeln.