„Es gibt niemanden, der sich nicht kratzt“

LITERATUR Ein Kinderbuch als beeindruckendes Wissenskompendium: Der Bremer Illustratorin Anke Bär gelingt mit „Wilhelms Reise“ ein sehr realistischer Einblick in die Welt der Auswanderung

Gut sieben Millionen Menschen wanderten über Bremerhaven aus – auch zahlreiche Kinder. Speziell für diese Zielgruppe hat der Hildesheimer Gerstenberg-Verlag mit „Wilhelms Reise“ nun ein Buch herausgebracht, dass die Hoffnungen, Mühen und Alltagsumstände der Amerikafahrer aus Sicht eines Bauernjungen nacherleben lässt.

Die vorhandene Kinderliteratur zum Thema ist überschaubar. Es gibt etwa Karin Gründischs „Das Paradies liegt in Amerika“, das ebenfalls die Perspektive eines 12-Jährigen einnimmt, 2011 erschien „Der lange Weg des Lukas B.“ von Willi Fährmann – Plankton in der Flut stereotyper Pony- oder Ritterbücher.

Dabei ist das Thema Auswanderung nicht nur wegen der aktuellen Wanderbewegungen wichtig, sondern auch mit einer Fülle an spannenden Unterkomplexen gesegnet: Anke Bär, Autorin und Zeichnerin von „Wilhelms Reise“, schafft es in ihrem 64-seitigen großformatigen Buch, zahlreiche Einzelthemen von der sozialen Lage in ländlichen Gebieten Ende des 19. Jahrhunderts über Ernährung, Kinderspiele, maritime Tierwelt, Takelage bis zur Funktion nautischer Geräte gut nachvollziehbar zu erschließen – selten ist ein Kinderbuch so inhaltsschwanger. Ein tolles Thema sind etwa die Feinheiten der Seekrankheit – und alles über Läuse zu wissen, ist auch einem heutigen Schulkind noch nützlich.

Es ist bemerkenswert, wie unaufdringlich Bär die Informationsfülle unterbringt. Ästhetisch gelingt ihr eine wohltuende Rhythmisierung des reichhaltigen Materials, in dem sie sich und den Lesern immer wieder ganzseitige Szenen gönnt, während andere Seiten von geradezu lexikalischer Detailverliebtheit und Kleinteiligkeit leben.

Ein Kinderbuch als Wissenskompendium: Wo bleibt bei all dem knallharten Realismus der narrative Reiz? Bär bedient sich eines Kunstgriffs, einer auch gestalterisch geschickten Setzung: Wilhelm erzählt seine Geschichte nicht selbst, er zeichnet sie. Die Leser folgen ihm als einem aufgeweckten Jungen, der mit seinem Skizzenbuch die wochenlange Überfahrt dokumentiert, auf der die Passagiere weitgehend zur Untätigkeit verdammt sind. Wie sieht eine Bettwanze unter der Lupe aus? Wilhelms Stift hält all das fest – und notiert: „Es gibt niemanden an Bord, der sich nicht ständig kratzt.“ Die Empathie der Leser, das Mitfiebern bis zur Ankunft auf Ellis Island ist gesichert – das Interesse folgt ihr mühelos.

HENNING BLEYL

Szenische Lesung mit Anke Bär und Akteuren des Bremer Figurentheaters: heute, 16 Uhr, Theaterkontor Schildstraße, Bremen