Ärztetag: Arme sterben früher

Europaweite Studien ergeben, dass sich die Lebenserwartungen zwischen dem ärmsten und dem reichsten Viertel der Bevölkerung um bis zu sieben Jahre unterscheiden. Arbeitslosigkeit und ein Job ohne Anerkennung steigern das Risiko

AUS BERLIN ULRIKE HERRMANN

Ein Novum: Der deutsche Ärztetag hat sich jetzt erstmals breit mit dem Thema „Krankheit und Armut“ befasst. Denn die Massenarbeitslosigkeit verändert auch den Alltag der Ärzte, die immer häufiger die Folgen der Armut therapieren sollen.

Armut macht krank. Das bestätigt auch eine neue europaweite Studie, die auf dem Ärztetag vorgestellt wurde. Ob Finnland, Frankreich, Deutschland oder Großbritannien – überall sterben die Armen früher als die Reichen. Bei den Männern kann die Differenz bis zu sieben Jahren betragen; bei den Frauen schwankt die Lebenserwartung zwischen Unter- und Oberschicht nicht ganz so stark. Als „Unterschicht“ wird das nach Einkommen ärmste Viertel, als „Oberschicht“ das reichste Viertel der Bevölkerung bezeichnet.

Armut macht krank, egal wie das Gesundheitssystem organisiert ist. In Skandinavien ist es fast kostenlos, in den USA weit gehend privatisiert – dennoch gilt für beide Regionen, dass die Armen deutlich früher sterben als die Reichen. Offensichtlich hilft der Arztbesuch den Armen nicht: Denn gerade die Unterschichten suchen besonders häufig die Praxen auf, wie man in Deutschland festgestellt hat. Allerdings gehen die Arztbesuche bei den Ärmeren jetzt deutlich zurück, seitdem die Praxisgebühr eingeführt wurde.

Aber warum verhindern auch üppige Gesundheitssysteme nicht den frühen Tod der Unterschichten? Die Erklärung ist bitter: Ärzte können die Folgen der Armut oft nicht mehr heilen. Die Unterschichten sterben weit überdurchschnittlich durch Unfälle, Krebs, Selbstmord und Herzinfarkte. Diese Disposition wird oft schon während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensjahren angelegt. So kommen Kinder aus Unterschichtsfamilien besonders häufig mit Untergewicht zur Welt – was sich bis zum Schulalter dann in Übergewicht verwandelt. Die Folge: ein vierfach erhöhtes Diabetisrisiko.

Zweiter Risikofaktor für die Armen: die Arbeitswelt. Alle Studien zeigen, dass Erwerbslosigkeit stresst und das Infarktrisiko stark ansteigen lässt. Aber auch wer einen Job hat, ist nicht besser dran. So hat eine Studie aus Finnland gezeigt, dass Arbeiter einem doppelt so hohen Infarktrisiko ausgesetzt sind, wenn sie stark beansprucht werden, aber kaum selbst entscheiden dürfen. Das gilt etwa für Akkordarbeit. Genauso tödlich ist ein stressiger Job, der kaum anerkannt wird.

Aus allem folgt: Der frühe Tod der Armen ist nur zu verhindern, indem man die Armut selbst bekämpft. Der Ärztetag forderte, „das Prinzip ‚Arbeit zuerst‘ muss zu einem Leitmotiv der politischen Gestaltung werden.“ Gleichzeitig will man das Angebot verändern. So sollte es mehr Gesundheitsaufklärung in den Schulen geben oder Screeninguntersuchungen schon im Kindergartenalter. Außerdem sollten Heimbewohnern und Obdachlosen Praxisgebühr und Zuzahlungen erlassen werden. Für Kinder sollten Medikamente kostenlos sein. Der Ärztetag schlug vor, das für diese Maßnahmen erforderliche Geld über Steuern, nicht über höhere Beiträge hereinzuholen.

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