Ohne Anschnallgurt durch Neukölln

VOLKSTHEATER Der Heimathafen Neukölln führt die Taxikulturen aus New York, Rom und L. A. zusammen und schult die Zuschauer in alten Neuköllner Tugenden: „Eckenstehen“ und „Türkisch to go“

Wer würde nicht verstehen, dass Taxifahrer Joey in seiner engen rollenden Kapsel dem Wahnsinn verfällt?

VON STEFANIE KLEIN

„Berlin hat wieder Volkstheater“ lautet der nicht unbescheidene Slogan des Heimathafens Neukölln. Er entspricht genau der forschen Attitüde, die den Bezirk und die Ausrichtung des Hauses ausmacht. Seit Anfang 2009 dient der traditionsreiche Saalbau Neukölln zehn jungen Theatermacherinnen als „Heimathafen“ für ihre einfallsreiche Kulturarbeit zwischen Bühne und Publikum.

Neben Humor, Gesang und Neuköllner Slang erwartet die Besucher ein detaillierter Blick auf einen multikulturellen Lebensraum, den der Spielplan mit Formaten wie einem Einbürgerungstest für Neukölln, dem Drama „Arabboy“ oder dem Roadmovie „NK Taxi Driver“ einzufangen sucht.

„Ben bir Neuköllner yim“

Im Neukölln-Einbürgerungstest können die Zuschauer ihre Bezirkstauglichkeit beweisen und sich jene Fähigkeiten aneignen, die das Überleben rund um Sonnenallee, Karl-Marx- und Hermannstraße sichern: Mit „Türkisch to go“, „Arabisch für Anfänger“ oder „Eckenstehen“ offeriert das Ensemble dabei praktische Bildungsangebote, die gleichzeitig einen Einblick in das kulturelle Herz des Bezirks Neukölln geben.

Der interaktive Einbürgerungstest funktioniert nicht als geschlossenes Stück, sondern als Abenteuerparcours, der ohne das Mitwirken der Zuschauer nicht unterhaltsam wird. Das Publikum hat offenbar lange auf diese Möglichkeit gewartet: Mit Elan stürzt es sich in dieses Theatererlebnis der anderen Art. „Ben bir Neuköllner yim“, klingt es zum Beispiel aus der Ecke „Türkisch to go“: Ich bin ein Neuköllner.

Am Ende des Abends erhalten drei Gäste die Einbürgerungsurkunde, andere dürfen sich künftig als Neukölln-Anwärter bezeichnen. Das 2008 im Rahmen der Aktion „48 Stunden Neukölln“ entstandene Stück vermittelt die Welt im Kiez lebensnah und humorvoll; aus theaterpädagogischer Sicht hätte es einen Preis für vorbildliche Erwachsenenbildung verdient.

Einbürgerung auf Türkisch

Dass sich der Heimathafen auch auf klassisches Theater versteht, zeigt das Bühnen-Roadmovie „NK Taxi Driver“, das am Donnerstag Premiere feierte. Unter der Regie von Nicole Oder, einer der Gründerinnen, entstand eine Reminiszenz an bekannte Filme über das Taxifahren aus dem Kiezblickwinkel.

Dabei erlebt der Fahrer Joey Episoden aus Jim Jarmuschs „Night on Earth“ und Martin Scorseses „Taxi Driver“, wobei die Handlung aus New York, Paris, Rom und Los Angeles vollständig nach Neukölln übertragen wird.

Unangeschnallt durchkreuzen die Zuschauer im Saalbau gemeinsam mit Joey und seinem Trabanten den Bezirk, treffen eigenartige, nervige, böse und schöne Fahrgäste und erleben die tiefen Abgründe des Personenbefördereralltags. Das theatrale Roadmovie ermöglicht dem Publikum einen Blick durch den Rückspiegel direkt auf die Stadt und ihre Bewohner. Wobei man sich zwangsläufig fragt, ob man eventuell der einzige „normale“ Fahrgast Berlins ist.

Die drei Darsteller füllen das reduzierte Bühnenbild mit ihrem Spiel vollständig aus. Durch raffinierte Orts- und Kostümwechsel in der Szenerie können Annette Borchardt und Jonathan Prösler mehr als zehn schräge Charaktere glaubhaft vermitteln, während Martin Molitor als Joey in allen Lebenslagen überzeugt. Wer würde nicht verstehen, dass er in seiner „engen rollenden Kapsel“ ein wenig dem Wahnsinn verfällt?

Brecht hätt’ vorbeigeschaut

Die Adaptation der verschiedenen Filmvorlagen führt teilweise schon mal zu dramaturgischen Sprüngen, da die Episoden kaum miteinander verknüpft sind. Den Szenen fehlt das richtige Tempo. Doch wer Neukölln kennt, weiß: „Es geht immer weiter“ – und freut sich auf den nächsten Fahrgast.

Ob klassisch oder interaktiv – der Heimathafen konzentriert sich auf das Lokale, auf das Geschehen vor der Theaterhaustür. Es bringt den Gästen eine Lebenswelt näher, die viele von ihnen anders nicht zu entdecken wagen.

Das Spiel mit bekannten Klischees dient dem Heimathafen Neukölln als zentrales Element, um Ängste ab- und Verständnis aufzubauen. Abseits der großen Häuser entsteht hier eine Bühne, die den Anspruch Volkstheater durch Formatvielfalt und Publikumsnähe erfüllt.

Wenn Brecht heute in Neukölln leben würde, hätte er sicher mal vorbeigeschaut.

■ Heimathafen Neukölln, Karl-Marx-Straße 141, „NK Taxi Driver“, 7.–9., 11./12. und 22./23.August sowie am 28./29. September