Die Zeit vor McDonald’s

FIKTIVES INDIEN „Zwischen den Attentaten“ – soeben ist das zweite Buch des Booker-Prize-Trägers Aravind Adiga erschienen

Momentaufnahmen, Shortcuts aus einer Stadt, in der sich die Gegensätze nicht anziehen

VON SHIRIN SOJITRAWALLA

Kittur liegt an Indiens Südwestküste, zwischen Goa und Calicut, und beherbergt rund 200.000 Einwohner. Es gibt einen Markt, ausgesprochene Armen- wie Reichenviertel, eine quirlige Hauptstraße, nicht nur ein Kino und alles sonst, was zu einer typischen indischen Stadt gehört. Ausgedacht hat sich diese Stadt, die das Land im Kleinformat spiegelt, der Schriftsteller Aravind Adiga, der im vergangenen Jahr für sein umwerfendes Debüt „Der weiße Tiger“ mit dem Man Booker Prize ausgezeichnet wurde. Darin beschrieb er den unmoralischen Aufstieg eines gewitzten Unterschichtlers zum Millionär.

Dienten ihm in seinem Debüt fiktive Briefe an den chinesischen Ministerpräsidenten als Rahmenhandlung, so bettet er seinen Geschichtenzyklus zwischen die Deckel eines Pseudoreiseführers. Jedes Kapitel beginnt mit einer touristischen Beschreibung des Schauplatzes. Das erinnert an den fiktiven Reiseführer „Molwanien: Land des schadhaften Lächelns“. Darin parodieren die australischen Witzbolde Santo Cilauro, Rob Sitch und Tom Gleisner übliche Reiseführer, indem sie deren beschränkte Weltsicht karikieren.

Weniger komisch und eher bemüht originell erweist sich allerdings Adigas Kniff, seine Geschichten im Gestus eines Stadtrundgangs zu präsentieren. Sein Erzähler spricht die Leser direkt an und empfiehlt all denen, die Kittur besuchen möchten, einen Aufenthalt von mindestens einer Woche; und selbstverständlich führt das Buch genau sieben Tage lang durch die Stadt.

Mit der Erfindung von Kittur mag Adiga aber auch dem indischen Schriftsteller R. K. Narayan seine Reverenz erweisen. Der 2001 gestorbene Autor zählt zu den populärsten Indiens, ist wie Adiga in Madras geboren, und viele seiner Geschichten sind im fiktiven südindischen Ort Malgudi angesiedelt.

„Zwischen den Attentaten“ nennt Adiga sein Buch und begrenzt damit auch den Zeitraum, in dem es spielt, nämlich den zwischen dem Attentat auf Indira Gandhi am 31. Oktober 1984 und dem Attentat auf ihren Sohn Rajiv Gandhi im Mai 1991. Im Gegensatz zu dem Roman „Der weiße Tiger“, der auch von den Grabenkämpfen der Globalisierung erzählte, spielen die neuen Geschichten in einer Zeit, in der Indien noch ohne Coca-Cola und Mc Donald’s auskam. Für jede Geschichte schnappt sich Adiga eine Figur aus dem Bevölkerungsgewusel Kitturs, um an ihr ein Exempel zu statuieren.

Mit der Erfindung von Kittur mag Adiga auch dem indischen Schriftsteller R. K. Narayan Reverenz erweisen

Herauskommen kurze Geschichten, Momentaufnahmen, Shortcuts aus einer Stadt, in der sich die Gegensätze nicht anziehen. Das Kastenwesen, die Klassengesellschaft, Arm und Reich, Korruption und Landflucht waren schon Themen seines Debüts. Diesmal umkreist er sie in vielen Varianten, indem er sich in verschiedene Milieus begibt und Figuren unterschiedlicher Kasten, Religionen und Generationen zu Wort kommen lässt. So begleitet er den Journalisten Gururaj, dem nichts so auf der verschwitzten Seele brennt wie der Wunsch, die Wahrheit ans Licht zu bringen, oder er schaut dem Fahrradkuli Chenayya über die Schulter, der sich für ein paar dreckige Rupien den Buckel krumm schuftet. Meist stehen Männer im Zentrum der anekdotenhaften Geschichten, die zwar den naiven Blick schön wachhalten, zuweilen aber unter ihrer schulbuchmäßigen Thesenhaftigkeit ächzen.

Insgesamt kommt das Buch behäbiger, weniger komisch und weniger rasant als Adigas Erstling daher. Dabei scheut er sich auch diesmal nicht, die brutale Wirklichkeit Indiens in den Blick zu nehmen. Anschaulich und genau schreibt er gegen die Ungerechtigkeiten des indischen Gesellschaftssystems an, indem er Figuren schafft, die sich nicht abfinden mit dem Elend ihrer Welt. Die sagenhafte Schönheit und den fabelhaften Schmutz des Landes beschreibt er en passant.

Inmitten der Trostlosigkeit platziert er immer mal wieder kleine Inseln der Barmherzigkeit, die sich wie Mahnungen lesen. Da teilt dann der Elefantentreiber seine Erdnüsse mit dem ausgelaugten Arbeiter, oder ein Busfahrer chauffiert zwei zerlumpte Kinder kostenlos. Eine der schönsten Geschichten des Buchs ereignet sich am sechsten Tag (Abend) im letzten Waldgebiet von Kittur. Ein kleiner, distinguierter Kreis trifft sich dort zu seinen Soireen. Es wird palavert, diskutiert und gegessen, und über allem liegt schon der wehmütige Schmerz des nahenden Abschieds. Die Geschichte liest sich wie eine tropische Variante von Tschechows Kirschgarten. Ein Abgesang auf eine untergegangene Epoche, der weit mehr berührt als das Klassen- und Kastenkämpferische die Tage zuvor.

■ Aravind Adiga: „Zwischen den Attentaten“. Aus dem Englischen von Klaus Modick. C. H. Beck, München 2009, 375 Seiten, 19,90 Euro