: Hoffen auf das Busenwunder
MEDIZIN Wenn Tausenden Frauen die Brust verpfuscht wird, ist das eine Katastrophe. Aber die Betroffenen haben sich zusammengetan und könnten nun viel bewegen: dass Implantate und Prothesen wirksam kontrolliert werden
■ Geschäft: Die französische Firma Poly Implant Prothèse (PIP) exportierte Brustimplantate in 60 Länder. Laut Schätzungen tragen Hunderttausende Frauen weltweit schadhafte PIP-Brustkissen. Denn statt teuren medizinischen Silikons verwendete PIP billiges Industriesilikon, geeignet etwa für Matratzen. Viele Implantate rissen und leckten. Industriesilikon steht im Verdacht, für Brustkrebs verantwortlich zu sein, weil Betroffene daran erkrankten; wissenschaftliche Nachweise dafür fehlen.
■ Gegenwehr: Nach Protesten Tausender Französinnen startete Frankreichs Gesundheitsminister kurz vor Weihnachten 2011 eine einmalige Rückrufaktion: 30.000 Frauen sollen sich PIP-Implantate vorsorglich entfernen lassen – auf Kosten der gesetzlichen Krankenversicherung. Deutschland schloss sich Anfang 2012 an. Im Januar wurde gegen PIP-Gründer Jean-Claude Mas, 72, gelernter Metzger, in Marseille Anklage erhoben wegen fahrlässiger Tötung und Körperverletzung.
AUS BESANÇON, BRÜSSEL UND BERLIN RUDOLF BALMER, RUTH REICHSTEIN UND HEIKE HAARHOFF
Hätte die Französin Alexandra Blachère nach der Geburt ihres dritten Kindes nicht gefunden, dass ihre Brust nun herunterhängt wie ein Waschlappen, dann müsste sich der deutsche Industrie-Lobbyist Heinrich Höfer heute vielleicht weniger Sorgen um das Marktsegment der Implantate und Prothesen machen. Der EU-Kommissar John Dalli dagegen hätte nicht so viel Hoffnung, dass Medizinprodukte in Europa schärfer kontrolliert werden. Dass sich endlich etwas tut.
Alexandra Blachère litt unter ihrem Busen. Er kam ihr immer flacher vor, immer weniger weiblich. Deshalb ließ sie ihn aufschneiden und mit Silikon vergrößern. Sie fühlte sich wie neugeboren.
Die Katastrophe nahm ihren Lauf.
Und Alexandra Blachère begann zu kämpfen.
Wie das so ist, wenn Katastrophen Menschen zu Kämpferinnen machen: Es könnte sich etwas ändern. Nicht nur bei den Implantaten, auch bei den Prothesen, den Hüftgelenken. Wie viel sich ändert, das entscheidet sich in den nächsten Wochen.
Alexandra Blachère ist 33 Jahre alt, eine zierliche, dunkelhaarige Frau. Man kann sich schwer vorstellen, dass sie einmal Unteroffizierin der französischen Armee war. Sie sitzt in ihrer Erdgeschosswohnung eines Reihenhauses in Besançon, im Osten Frankreichs. Ihre Wohnung hat sie zum Hauptquartier ihrer Vereinigung PPP gemacht – ein Zusammenschluss all jener Frauen, die gemerkt haben, dass in ihren Brüsten industrielles Silikon lagert, schädlich für den menschlichen Körper. PPP heißt: Porteuse de Prothèse PIP. Trägerinnen von Implantaten der Firma PIP, die inzwischen pleite ist; gegen ihren Gründer und die Versicherung laufen Klagen.
Die Leute stellen sich Stars oder Sexbomben vor
Es geht Alexandra Blachère um Entschädigung und um Wiedergutmachung. Es geht ihr aber auch um ihr Image: „Die meisten Leute stellen sich Frauen, die sich die Brust operieren lassen, vor wie Sexbomben aus den Illustrierten. Oder wie die Hollywoodstars, die für Schönheitschirurgie Vermögen ausgeben“, sagt sie. „Dabei sind das Frauen wie alle anderen.“
Alexandra Blachère hat schon ein kleines Wunder vollbracht: Sie hat es geschafft, mit ihrer Vereinigung Druck aufzubauen. Sie ist bis ins Gesundheitsministerium in Paris vorgedrungen mit ihrer Forderung: Die Qualität von Implantaten muss ordentlich überprüft werden – davon hat Blachère den französischen Gesundheitsminister Xavier Bertrand überzeugt. Damit aber die Richtlinie geändert werden kann, die in der ganzen EU festlegt, unter welchen Bedingungen Implantate und Prothesen auf den Markt gebracht werden, müssten alle 27 Mitgliedstaaten überzeugt werden. Eine komplizierte Angelegenheit.
Wenn John Dalli in seinem Büro in Brüssel über Brustimplantate spricht, ziehen sich seine buschigen Augenbrauen bedrohlich über der Brille zusammen. „Es hat mich schockiert, als ich erfahren habe, was da in Frankreich passiert ist. Es ist ein Verbrechen an unschuldigen Frauen“, sagt der EU-Kommissar, der seit zwei Jahren für die Gesundheit der Europäer zuständig ist.
Leider, sagt Dalli, brauchten die Menschen oft Katastrophen, um ihre Meinung zu ändern.
Er kennt das von der Schweinegrippe. Die Kommission hatte schon vorher vorgeschlagen, bei solchen Epidemien den Einkauf von Impfstoffen EU-weit zu koordinieren. Die Mitgliedsstaaten waren dagegen. Erst als sie während der Schweinegrippe überteuerte Impfstoffe kaufen mussten, bewegten sie sich. Dalli lächelt kurz, als er das erzählt.
Er kommt aus Malta, dem kleinsten EU-Land. Er wirkt ernsthaft, dunkelgrauer Anzug, brav zur Seite gekämmte Haare. Dalli ist in der EU-Kommission der Mann für die Katastrophen-Reaktion: Dioxinskandal, Ehec, Schweinegrippe.
Und nun die Implantate. „Wir können die Mitgliedsstaaten jetzt vielleicht endlich überzeugen, etwas zu ändern“, sagt John Dalli. Aber was genau?
Seine Mitarbeiter haben nicht nur mit Herstellern gesprochen, sondern auch mit den Frauen in Frankreich, die sich für strengere Regeln einsetzen. Mit den Leuten von Alexandra Blachère. Die Welle von Aufmerksamkeit, die auch Blachère ausgelöst hat, treibt den Kommissar an.
John Dalli hat die EU-Gesundheitsminister Anfang Februar in einem Brief aufgefordert, Medizinprodukte strenger zu kontrollieren. Der erste Schritt nach dem Skandal.
Schon vorher hatte die EU-Kommission angefangen, an einer Neuauflage der Richtlinie zu arbeiten, die seit 2007 den Umgang mit Medizinprodukten in der Europäischen Union regelt. Bisher wehrten sich viele der 27 Mitgliedsländer dagegen. Jetzt sind die Staaten zu Zugeständnissen bereit. Aber noch muss Dalli gegen den Druck der Industrie-Lobbyisten ankämpfen.
Heinrich Höfer ist ein Fuchs, seit 26 Jahren ist er beim Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, wenn er im Ministerium anruft, wird er durchgestellt. Er weiß, wie es läuft. Man muss den aufgebrachten Politikern, den zornigen Krankenkassen – „den eigentlichen Schaltstellen im System“, Verständnis signalisieren. Schließlich sind es die Kassen, die die Produkte der Hersteller bezahlen.
„Sicherheit ist ein hohes Gut“, sagt Heinrich Höfer. Er lächelt. „Die Industrie ist ja nicht daran interessiert, dass die Leute Angst vor ihren Produkten haben.“ Einerseits. Und andererseits?
Heinrich Höfer, als Abteilungsleiter beim BDI für Gesundheitswirtschaft zuständig, 65 Jahre, promovierter Volkswirt, Naturell Ostwestfale, fragt stets: „Sind die Regeln so, dass die Unternehmen gute Aussichten haben, ihre Investitionen in einwandfreie neue Produkte wieder reinzubekommen?“
Andererseits.
Er streckt beide Arme aus, hebt den einen, senkt den anderen, und sollte die „Sendung mit der Maus“ je einen suchen, der pantomimisch erklären kann, was ein Abwägungsprozess ist – Höfer wäre ihr Mann.
Andererseits: „Es geht um das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Fortschritt.“ Höfers Arme pendeln weiter durch die Luft: „Je komplizierter die Sicherheitsstandards, desto regressiver kann das für den Fortschritt sein.“ Medizinprodukte werden von Mittelständlern hergestellt. Wenn die den Aufwand steigern müssten, seien weniger Innovationen möglich. „Der Patient aber hat ein Interesse an medizinischem Fortschritt“, sagt Höfer. „Denken Sie nur an die wichtigen Innovationen in der Tumorbekämpfung.“ Kunstpause. Die Arme legen sich bescheiden an den schmalen Körper.
Dann die höfliche Drohung: „Wir können dem Gesetzgeber nur sagen, welche Kriterien er aus Sicht der Industrie ins Kalkül ziehen sollte.“ Wenn er Glück hat in Gesprächen mit Politikern und Kassenvertretern, dann reichen diese Sätze schon. Dann könnte es gelingen, die Dramatik des europaweit unregulierten Markts der Medizinprodukte in der politischen Wahrnehmung zu reduzieren auf ein Überwachungsproblem von, nun ja, kosmetischen Damenartikeln.
Die größte Gefahr für Heinrich Höfer geht gerade von den Forderungen des französischen Gesundheitsministers aus. Xavier Bertrand will nach dem PIP-Skandal den Systemwechsel. Er will, dass Medizinprodukte das leisten, was auch Arzneimittel in Europa anhand aufwendiger, teils jahrelanger klinischer Studien nachweisen müssen, bevor sie verkauft werden dürfen: dass sie wirken und unbedenklich sind. Und nicht bloß technisch funktionieren. Was Bertrand fordert, liefe auf eine staatliche Zulassung für Medizinprodukte hinaus. Damit das Arzneimittelrecht in den Siebzigern verschärft wurde, brauchte es den Contergan-Skandal.
Alexandra Blachère weint, wenn sie an ihre Brüste von damals denkt, nach der dritten Geburt. Ihr Freund David nimmt sie in den Arm. Manchmal habe er sie tieftraurig im Bad gefunden, erinnert er sich.
„Als eine Freundin mir das Ergebnis ihrer Brustimplantation gezeigt hat, war es für mich ganz einfach gar keine Frage mehr, sondern sternenklar, ich wollte auch operiert werden“, erzählt Alexandra Blachère. Für sie und ihren Freund war das viel Geld. Sie sind beide arbeitslos, sie leben bescheiden. „3.420 Euro! Die größte Investition meines Lebens!“ Bezahlt hat sie mit einem Darlehen. Am 30. Juni 2008 wurde sie operiert. „Wiedergeburt“, sagt sie. Blachères Freund erinnert sich noch, wie er sich auf der Webseite der Firma umgesehen hatte und beruhigt war: Qualität „auf Lebenszeit garantiert“.
Im Frühling 2010 las Alexandra Blachère in einem Internetforum, dass sich die Probleme und gesundheitlichen Schäden mit Implantaten der Firma Poly Implant Prothèse, kurz PIP, häuften.
Im Juli 2010 ließ sie sich die Implantate aus Angst, dass diese auch bei ihr platzen oder auslaufen könnten, bei einem anderen Chirurgen entfernen und ersetzen. Alles auf eigene Kosten.
Von den Problemen mit den Produkten der Firma PIP hatte auch schon der EU-Kommissar John Dalli 2010 erfahren, als Frankreich die Implantate aus minderwertigem Silikon aus dem Verkehr zog. „Jeder Mitgliedsstaat muss sofort melden, wenn es Probleme gibt“, sagt Dalli. Seine Mitarbeiter informierten ihn. „Das lief gut.“
Dem EU-Kommissar steht nun eine Schlacht bevor
Aber jetzt, sagt Dalli, steht ihm eine Schlacht bevor. Der Schlüssel ist für ihn eine bessere Organisation und Kontrolle der privatwirtschaftlichen Prüfstellen, die das CE-Gütesiegel vergeben und damit Medizinprodukte für den Markt zulassen. „Zurzeit haben wir über tausend solcher Organisationen“, sagt Dalli. „Es gibt keine klaren Regeln. Wir müssen das besser strukturieren und strenger kontrollieren.“
Im Mai, vielleicht erst im Juni, wird der Kommissar seine neue Richtlinie präsentieren. Denkbar wäre etwa, dass nicht mehr jede Prüfstelle jedes Medizinprodukt genehmigen darf, sondern dass sich einzelne Stellen auf bestimmte Produkte spezialisieren. Damit man sie künftig nicht mehr so leicht überlisten kann. Und dass die Prüfstellen öfter unangemeldet kontrollieren kommen, nicht nur wie bisher während der Produktion, sondern auch in der Praxis, in den Krankenhäusern, bevor die künstlichen Gelenke, Wirbel oder Brustkissen schließlich implantiert werden. Außerdem sollen die Zulassungsstellen selbst regelmäßig von staatlichen Stellen überwacht werden.
Der französische Gesundheitsminister Bertrand will viel mehr. Könnte er sich durchsetzen, kämen schärfere Regeln. Aber wer den Widerstand der Industrie kennt, den Widerstand privater Prüfstellen, die fürchten, der Staat könnte ihnen ihr Prüfmonopol entziehen, und den Widerstand bestimmter Mitgliedstaaten, die ihre Zustimmung zu gesetzlichen Neuerungen oft weniger von Inhalten denn von politischen Tauschgeschäften abhängig machen, wer diese Widerstände kennt, ahnt: Selbst dieser erste Schritt in die richtige Richtung wird mühsam.
Der deutsche TÜV Rheinland, der die Implantate von PIP zertifizierte, hatte seine Kontrollen beim französischen Hersteller vorher angekündigt. Das immerhin dürfte sich ändern.
Hat der BDI-Lobbyist Heinrich Höfer Erfolg, wird es hauptsächlich diese unangemeldeten Besuche geben. Lästig für die Firmen. Aber kein Systemwechsel.
Alexandra Blachère ist wütend, dass sie und andere Betroffenen auch noch die finanziellen Folgen für einen industriellen Betrug tragen sollen, mindestens teilweise. Außerdem beklagt sie die mangelhafte Information. Nachdem die französische Heilmittelkontrolle Afssaps nach einer Inspektion im März 2010 den Schwindel mit den Implantaten entdeckt und gestoppt hatte, erhielten die Ärzte eine Frist von sechs Monaten, um ihre Patientinnen zu informieren und ihnen eine Austauschoperation vorzuschlagen.
„Pipettes“ nennen sich die Betroffenen inzwischen in den Netzforen, Pipetten – mit zynischem Humor. Die sozialen Netzwerke haben Alexandra Blachères Organisation PPP so groß gemacht. „Ohne Internet hätten wir gar nichts tun können“, sagt sie. Sie führt auf ihrem Laptop das Forum vor, über das sie Anfragen aus ganz Frankreich erhält, aus Lateinamerika, aus Madagaskar, sogar aus Tahiti.
PPP ist zum politischen Player geworden. 1.500 Mitglieder haben den Mindestbeitrag von 5 Euro bezahlt. Mit einem Anwalt hilft die Vereinigung den Patientinnen bei Klagen wegen Körperverletzung. Mehr als 2.500 liegen bereits der zuständigen Justiz in Marseille vor. Der Druck wächst.
Den größten Erfolg erzielte Alexandra Blachère als ehrenamtliche Präsidentin und Sprecherin der Opfer des PIP-Skandals bei der Pariser Regierung. Vier Mal schon wurde sie in Paris im Ministerium empfangen. Sie habe dort ziemlich deutlich gesagt, was sie für notwendig halte. Ihre Wut verdrängte ihre Schüchternheit. Noch jetzt lacht sie über die verdutzten Gesichter der Berater des Gesundheitsministers.
Dass die Behörden kurz vor Weihnachten alle in Frankreich betroffenen 30.000 Frauen aufforderten, die PIP-Prothesen zu entfernen, war ein Etappensieg.
Dann, Anfang Januar, fordert der französische Gesundheitsminister Xavier Bertrand, dass in der ganzen EU die Staaten für die Zulassung von Implantaten zuständig sein müssen.
John Dalli, der EU-Kommissar, ist zögerlicher. Er rüstet vor allem verbal auf.
Und er verlangt: Patienten sollen in Zukunft genau wissen, welches Produkt in ihrem Körper steckt, Herstellername, Baujahr, Chargennummer inklusive – egal, ob es sich um ein Silikonkissen oder eine künstliche Hüfte handelt. Ein solches Register gibt es für Autoteile längst. Aber für Implantate oder Prothesen nicht – obwohl es in der bisherigen EU-Medizinprodukte-Richtlinie bereits gefordert wird. Vielen Mitgliedsländern war der bürokratische Aufwand bislang zu hoch. „Jetzt sehen wir, was wir davon haben. In Dänemark gab es nur 60 PIP-Implantate, aber 1.700 Frauen wissen bis heute nicht, ob sie davon betroffen sind, weil es keine Aufzeichnungen darüber gibt.“ Es ärgert John Dalli.
Eigentlich, findet er, hätten die Verbesserungen längst kommen müssen. Aber er kennt die Regierungen, er weiß, dass sie nur Vorschläge akzeptieren, die mehrfach geprüft und abgesichert sind. So rechneten seine Mitarbeiter monatelang durch, was neue Regeln kosten würden und wie sie sich auf den Markt der Medizinprodukte auswirken.
Die Verbraucher, sagt Dalli, müssen informiert werden und sich bewusst sein über die Risiken, die sie eingehen – egal ob es dabei um Lebensmittel oder Medizinprodukte geht: „Ich verbiete niemandem, Schokolade zu essen. Ich mag Schokolade. Ich esse sie auch. Aber ich will, dass die Menschen wissen, was drin ist in der Schokolade und was der Verzehr für sie bedeutet.“
Im Februar verschicken die Nachrichtenagenturen Dallis sanfte Drohung in 27 EU-Mitgliedstaaten.
Und Heinrich Höfer in Berlin? Gießt Kaffee in seine Tasse und sagt: „Ich habe das heute nicht verfolgt.“ Kunstpause. „Ich habe mich mit steuerlicher Forschungsförderung beschäftigt.“ Das Haus der Wirtschaft in Berlin-Mitte, in dem Höfer sitzt, ist eine architektonische Solidität aus Stahl, Glas und Holz. Der BDI hat schon andere gesundheitspolitische Beben überstanden.
Zuletzt empfindlich gewackelt hat es hier 2010, als der damalige Bundesgesundheitsminister Philipp Rösler der Pharmaindustrie den Krieg erklärte. Der FDP-Mann besiegelte das Ende des Preisdiktats der Arzneimittelhersteller. „Damit“, sagt Heinrich Höfer, „hatte hier keiner gerechnet“. Die Fäden glitten ihm aus der Hand.
Röslers Reform kam, aber vorher hat Höfer sie noch etwas entschärft. Wer so eine Attacke überlebt hat, den bringt so schnell nichts aus der Ruhe. Auch kein Implantate-Skandal.
Es ist diese Vorgeschichte, die man kennen muss, um zu verstehen, mit welcher Gelassenheit Heinrich Höfer die aktuelle Nachrichtenwucht pariert. Außerdem kennt Höfer, der Fuchs, die Regeln des Lobbyismus: dem Gegner nie das Gefühl geben, man fürchte ihn so sehr, dass man ihm uneingeschränkte Aufmerksamkeit zuteil werden lässt.
Und hat nicht sogar der EU-Kommissar Dalli neulich in einem Gespräch mit einem BDI-Mitgliedsverband anklingen lassen, dass ein staatliches Zulassungsverfahren für Medizinprodukte, wie der Franzose Bertrand es fordert und wie Höfer es fürchtet, 6.000 zusätzliche Stellen bedeuten würde? 6.000 Stellen! Die EU, soll Dalli gesagt haben, könne sich aber nicht mal 500 leisten.
Der Lobbyist kann sehr staatstragend klingen
Daniel Bahr, Röslers Nachfolger als Gesundheitsminister, könnte, wenn er nur wollte, mit seinem französischen Kollegen Bertrand die Meinungsführerschaft über die europäische Gesundheitspolitik übernehmen. Nur ist er zu Hause mit seiner FDP schon seit Monaten k.o. Zusätzliche europäische Raufereien kann er nicht gebrauchen.
„Das Gefährdungsausmaß und der Kontrollaufwand müssen in einem vernünftigen Verhältnis zueinander stehen.“ Heinrich Höfer kann sehr staatsmännisch klingen.
Wenn man bei John Dalli, dem EU-Kommissar, nachbohrt: Warum kein Systemwechsel, keine staatliche Zulassung? Dann hört man: Er will Innovationen nicht behindern. Es sind die Argumente, die der Lobbyist Heinrich Höfer stark macht.
Und wenn doch eine Mehrheit der EU-Gesundheitsminister einfordert, dass, wer Implantate zum lebenslänglichen Verbleib im Körper herstellt, zunächst mit klinischen Studien nachweisen muss, dass sie nicht bloß technisch taugen, sondern dem Patienten auch helfen? In Frankreich wird in diesem Jahr der Präsident gewählt, in Deutschland nächstes Jahr der Bundestag.
Vielleicht bräuchte es noch mehr Frauen wie Alexandra Blachère.
Vielleicht müsste der französische Gesundheitsminister noch energischer in Brüssel für seinen Vorschlag werben.
Alexandra Blachère schaut aus dem Fenster ihrer Wohnung. Sie konzentriert sich jetzt auf den Prozess im Herbst. Wenn sie da ein paar tausend Euro Schadenersatz bekommt, kann sie ihre Schulden abbezahlen.
Erst dann, sagt sie, sei für sie die ganze schreckliche PIP-Geschichte Vergangenheit.
Aber wenn es gut für sie läuft, hat diese Katastrophe noch eine Zukunft.
■ Rudolf Balmer, 60, ist Korrespondent der taz in Paris
■ Ruth Reichstein, 32, ist Korrespondentin der taz in Brüssel
■ Heike Haarhoff, 42, ist taz-Redakteurin in Berlin