Vorübergehend gedenken

Ein Panorama der historischen Imagination vis-à-vis dem Kanzleramt: Der DGB hat zum 8. Mai für zwei Tage eine temporäre Installation initiiert. Statt Reden vor Blumengestecken: Kunst

VON BRIGITTE WERNEBURG

Esther Dischereit, als Autorin von Theaterstücken, Gedichten und Essays bekannt, kümmert sich beim DGB um die Dinge, die quer zu den regulären Aufgaben des Dachverbands der deutschen Gewerkschaften stehen – also um Kunst und Kultur. Als sie mit der Abwicklung repräsentativer Aufgaben betraut wurde, der Organisation von Jahrestagen – wie etwa heute und morgen: das Kriegsende durch die bedingungslose Kapitulation der deutschen Streitkräfte – hatte niemand mit künstlerischen Aktionen und Veranstaltungen im Stil von Performances und Experimentaltheater anstelle von Reden vor Blumengestecken gerechnet.

Und doch ist es jetzt dem DGB Berlin-Brandenburg gedankt, wenn sich diejenigen, die heute mit dem Bus 123 oder TXL-Bus vom Lehrter Bahnhof in Richtung City West oder Flughafen Tegel fahren – so sie am Kanzleramt aussteigen –, in einem völlig neuen Raum wiederfinden. Die überdachte Bushaltestelle der Wall AG hat einen neuen Boden erhalten, und das Innere des Glashäuschens zeigt die Reproduktion eines Dioramagemäldes des brennenden Reichstags. Gegenüber der Bushaltestelle ist auf der Moltkebrücke ein Sichtpunkt markiert, von dem aus der Betrachter den Reichstag aus exakt jener Perspektive sehen kann, aus der die Fotografie aufgenommen war, nach der zwei sowjetische Militärmaler 1970 im Auftrag der damaligen Regierung der DDR das Diorama angefertigt hatten.

Eigentlich mag man es gar nicht glauben, dass ausgerechnet der DGB diese temporäre Installation initiiert hat, die nur heute und morgen zu sehen ist. Genau darum aber geht es Esther Dischereit in ihrer Kulturarbeit: für eine Einrichtung wie die Gewerkschaft Formen zu finden, die die gängigen, inzwischen längst erstarrten institutionellen Rituale und Inszenierungen hinter sich lassen. Formen, die einen offenen Ausgang in der Behandlung des Themas versprechen. Wie sie selbst so schön sagt: „Im Zusammenhang mit einem solchen Datum wie dem 7./8. Mai wird eben hauptsächlich gedenkt – und nicht gedacht.“ Dabei will sie die Notwendigkeit des Gedenkens keineswegs in Abrede stellen. Doch die Gefahr im Zusammenhang mit einer Organisation wie dem DGB liegt eben darin, dass Institutionen geneigt sind, eher zu verlautbaren, wie einer Sache richtig gedacht wird, als Raum für Nachdenklichkeit zuzulassen.

Ulrike Mohrs und Susanne Wecks Installation an der Moltkebrücke ist nicht eigens zum 7./8. Mai entstanden. Vielmehr ist „Die Schlacht um den Reichstag“ der Absolventinnen der Kunsthochschule Berlin-Weißensee die weitere Ausarbeitung einer langjährigen Recherchearbeit, die bislang vor allem in einer Videodokumentation zu dem Diorama vorlag. Das Rundgemälde war von der DDR-Regierung den sowjetischen Freunden in Deutschland übergeben und im Armeestützpunkt Wünsdorf in einem eigenen begehbaren Bauwerk, einer eigenen Rotunde, untergebracht worden. 1991 stießen die Künstlerinnen im Zusammenhang mit einer anderen Kunstaktionen auf die inzwischen leere Rotunde. Zu diesem Zeitpunkt konnte ihnen schon niemand mehr sagen, was hier einmal zu sehen war. Nachdem sie schließlich von dem Bild erfahren hatten, forschten sie seinem weiterem Verbleib nach und fanden es zuletzt in einem Marschall Schukow gewidmeten Museum rund 200 Kilometer vor Moskau.

Das Inferno wird im Stil des sozialistischen Realismus präsentiert, wobei die Maler mehr das Bauwerk und dessen auch symbolischen Ruin im Blickfeld haben als die Opfer, von denen nur wenige zu sehen sind. Die Szene aus der Schlacht um Berlin ragt nun gewissermaßen in das Bild, das sich bietet, schaut man vom markierten Sichtpunkt auf den von Norman Foster wieder hergestellten Reichstag und das ihm vis-à-vis liegende Kanzleramt. Und so entsteht ein Panorama der historischen Imagination.

Ein Budget für diese Aktion wie auch die Veranstaltung im DGB-Haus selbst gibt es nicht. Auch wenn die Konzeption zum 7./8. Mai von sämtlichen Einzelgewerkschaften im DGB beschlossen und mitgetragen wird, musste Esther Dischereit Sponsoren für das Projekt finden, das auch die Ausstellung „Menschen Bilder Krieg“ von Antonia Bisig beinhaltet. In der Keithstraße nahe dem Wittenbergplatz zeigt die in Berlin lebende Schweizer Künstlerin am 7. Mai zusätzlich für wenige Stunden ihr aus 16 Leinwänden zusammengefügtes Bild „Korporation“, zu dem der Historiker Reinhard Rürup und der Galerist Rolf Hartmann sprechen werden. „Korporation“ ist nach einem Foto gemalt, das 1937 bei der Geburtstagfeier für Hermann Göring entstand. Bisig analysiert mit ihrer akribischen Mal- und Zeichentechnik die uniformierten Körper in Hinblick auf ihre Haltung und Blicke, auf die Inszenierung von Unterwerfungs- und Herrschaftsgestik. Im Anschluss daran tritt die Schauspielschule Ernst Busch mit einer szenischen Montage aus Texten von Inge und Heiner Müller, Helga M. Novak und anderen auf, Texten, die sich unmittelbar auf den 7. und 8. Mai beziehen und die Sprache gegen die Übermacht der Bilder ins Spiel bringen. Auch das ein kluge und glückliche Idee.