Dem Schrecken einen Namen geben

Nach jahrelangem Streiten und Bauen wird das „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ jetzt für die Öffentlichkeit freigegeben. 2.711 Betonstelen – und der Versuch, den Holocaust an einem „Ort der Information“ begreifbarer zu machen

AUS BERLIN PHILIPP GESSLER

Es war die letzte Nachricht, die Judith Wischnjatskaja (12) noch verfassen konnte: „31. Juli 1942 – Lieber Vater! Vor dem Tod nehme ich Abschied von Dir. Wir möchten so gerne leben, doch man lässt uns nicht, wir werden umkommen. Ich habe solche Angst vor diesem Tod, denn die kleinen Kinder werden lebend in die Grube geworfen. Auf Wiedersehen für immer. Ich küsse dich inniglich. – Deine J.“

Dieser Brief ist eines der bewegenden Exponate des „Ortes der Information“ unter dem Holocaust-Mahnmal in Berlin, das ganz offiziell am Dienstag eröffnet wird. Ein Rotarmist hat diesen Teil eines Briefes ihrer Mutter an den Vater in Byten (Ostpolen) gefunden.

In jahrelanger Arbeit ist unter den 2.711 Stelen des „Denkmals für die ermordeten Juden Europas“ ein „ergänzender Ort der Information“ entstanden, wie es der Bundestagsbeschluss vom Juni 1999 vorsah. Schon der sperrige Name zeigt, wie schwer man sich tat, auf einer unterirdischen Fläche kaum größer als ein Tennisplatz das Wesentliche über den Mord an sechs Millionen Menschen zu erzählen. In einer Form zumal, die das über 19.000 Quadratmeter große Stelenfeld südlich des Brandenburger Tors erläutert, nicht dominiert. Es ist ein fast unmögliches Unterfangen.

Offenbar wollten die Ausstellungsmacher aus der Not eine Tugend machen: Sie nutzen „die Kunst der Reduktion“, wie es Günter Schlusche sagte, der Koordinator für Bau und Planung des Mahnmals. Vier gleichgroße Räume mit jeweils einem kleinen Foyer beleuchten mit jeweils eigenen Schwerpunkte das unfassbare Geschehen.

Da ist das Eingangsfoyer, in dem in knappster Form mit Hilfe eines Text- und Bildfrieses ein Überblick über den Holocaust gegeben wird. Es folgte der erste der vier zentralen Räume, der „Raum der Dimensionen“. An den Wänden sind die geschätzten Opferzahlen der ermordeten Juden Europas zu lesen, nach Staaten verteilt. Auf dem Boden werden auf Lichtfeldern 15 Selbstzeugnisse von Opfern gezeigt, verfasst meist kurz vor ihrem Tod. Hier ist auch die letzte Nachricht von Judith Wischnjatskaja festgehalten.

Im nächsten Raum des Rundgangs, dem „Raum der Familien“ werden 15 jüdische Familienschicksale dargestellt – der angesichts vieler Fotos wohl sinnlichste Teil der Ausstellung. Es ist eher ein Raum der Trauer über das zerstörte Leben als ein Beschreibung des Massensterbens. Gänzlich reduziert dann der „Raum der Namen“, wo 800 Namen von Opfer mit kurzen biografischen Angaben in einer Endlosschleife verlesen werden. Zusätzlich wird jeder einzelne Name in einer Lichtschrift an die schwarzen Wände geworfen.

Schließlich der „Raum der Orte“, wo exemplarisch 200 Orte der Verfolgung in ganz Europa und das dortige Geschehen vorgestellt werden – zumeist an Bildschirmen, die einen interaktiven Zugang erlauben. Der Rundgang endet in einem kleinen Foyer, wo an Terminals auf die authentischen Orte des Massenmordes und die heutige Gedenkarbeit dort verwiesen wird.

Die Dauerausstellung besticht durch eine fast wissenschaftliche Kühle, die darauf vertraut, die Bilder des Genozids kaum zeigen zu müssen, um den wahrhaften Schrecken im Kopf entstehen zu lassen. Die Schau versucht, möglichst viele Namen von Opfern, zum Teil auch von Tätern zu nennen – die häufige „Personalisierung“ soll das Geschehen greifbarer machen. Der Schwerpunkt liegt auf Mittel- und Osteuropa, die Hauptregionen des Massenmordes. Die europäische Dimensionen des Holocaust deutlich zu machen, ist eine der Stärken des „Ortes“. Es ist eine mutige Ausstellung.