berliner szenen Trinken und Sinken (7)

Rechnen und Jammern

„Der Kapitalismus …“, hebt A. an. Bier treibt Harn und Worthülsen. „Prost“, ersticken S. und ich das wirre Geblubber. Auch woanders wird gejammert. Das ist Volkssport in der „Hasenschänke“.

Hinter uns sitzt die absolute Stammbesatzung – alle drei mit Sonnenbrille und der klassischen Frühjahrssaufbräune. Jeden Tag sitzen sie in der Sonne, trinken und jammern. In einer Endlosschleife fallen die Worte „Hartz IV“, „Scheiße“ und „Bierholen“.

Ab und zu geht einer nach vorne zum Verkaufsschalter unter dem Vordach, wo die Blassen sitzen. Die „Hasenschänke“ ist eine Klassengesellschaft: Hier die Braunen, die jammern. Dort die Blassen, die nur noch stumm vor sich hin bleichen. Dazwischen die Balkanleute, die aus Gründen, die ich nicht wissen möchte, als Einzige und geradezu unterwürfig am Tisch bedient werden.

„Der Kapitalismus …“, versucht es A. erneut mit diesem gebetsmühlenartigen Gewäsch selbstverschuldet zu kurz gekommener Mittvierziger. Entsexte Trinker, St.-Pauli-Modefans. Bald gehöre ich selbst dazu, dann wird es Zeit zu gehen. „Ich trinke ja jetzt kontrolliert“, wechselt A. das Thema, „nur noch drei Bier am Tag. Mit den sechs heute bin ich drei im Minus. Morgen zwei, dann bin ich bloß noch zwei hinten.“ Ein kühler Rechner. Wir prosten uns zu.

Kollege O. kommt. In einem Jutebeutel klirren leere Flaschen. O. sieht gesund aus, glücklich, braun gebrannt. Er war am Teich. „Die Frösche haben gequakt“, sagt O., „das war schön.“ Er zeigt uns das Loch in seinem Arm – 38 Plasmaspenden in einem Jahr, dazu Hartz IV. „Alles besser als Taxifahren“, meint O. und leert mit uns zügig ein paar Einbecker, „ich weiß nicht, warum die alle jammern.“ Als er geht, torkelt er extrem. ULI HANNEMANN