NPD-VERHINDERUNG UND EUROPÄISCHES GESCHICHTSBEWUSSTSEIN
: Die Agenda nach dem 8. Mai

Die Republik hat den 60. Jahrestag der Befreiung ordnungsgemäß über die Bühne gebracht. Und ein bisschen mehr. In Berlin gab es außerordentlich erfolgreiche Anti-Nazi-Demonstrationen, die zeigen, dass man den Kampf gegen die NPD nicht dem Staat überlässt. Man muss kein Freund von Bürgerfesten oder Lichterketten sein, um anzuerkennen, dass dies keine Pflichtveranstaltungen waren, sondern Impulse aus der Gesellschaft. Hier hat sich gezeigt, dass wir eine Figur aus den Gedenkdebatten der letzten zwanzig Jahre verabschieden können: den Mahner und Warner. Der von ihm notorisch befürchtete Schlussstrich kam nie. Die NS-Zeit wird keinem diffusen, freundlichen Vergessen anheim fallen. Sie wird der zentrale historische Identifikationspunkt dieser Republik bleiben.

Und jetzt? Obwohl die Sprünge und Entwicklungen der hiesigen Erinnerungspolitik paradox und unvorhersehbar waren, ist teilweise absehbar, wie sich die Gedenkpolitik verändern wird. Fünfzehn Jahre nach dem Ende des sowjetischen Imperiums und seit dem EU-Beitritt Osteuropas ist fraglich, wie ein kollektives europäisches Geschichtsbewusstsein geformt sein soll. Geschichtspolitik ist in der EU zu einem gehörigen Teil Realpolitik. Gerade für die EU gehört der Konsens über die europäische Katastrophengeschichte, in deren Zentrum der Holocaust steht, längst zur Raison d’être.

Dieses Geschichtsbild ist richtig – es darf aber keine Festung sein, um sich die Unterdrückungserfahrung nach 1945 in Osteuropa vom Leib zu halten. Darum geht es wohl: Im Westen muss diese osteuropäische Erfahrung überhaupt erst ankommen, so wie der Osten akzeptieren muss, dass der Holocaust im Zentrum der Erinnerungspolitik steht. Anerkennung ist der Schlüsselbegriff dieser Debatte. Ohne ihn wird das Ganze in der Sackgasse retrospektiver Opferkonkurrenz landen.

Ob die Europäisierung des kollektiven Geschichtsbewusstseins gelingt, wird auch in Deutschland entschieden. Doch dazu muss sich der hiesige Blick noch weiten. Schröder wird heute in Moskau an der Seite Putins und der Sieger des 2. Weltkrieges stehen – ohne ein Wort zum Boykott der Veranstaltung durch zwei baltische Länder gesagt zu haben. Das ist zu wenig. STEFAN REINECKE