der krieg ist aus: orte im wandel (1)
: Die vier Leben des Bunkers

Der Gasometer in der Fichtestraße war Lager, Gefängnis, Obdachlosenasyl und Zuflucht für zehntausende Berliner

Vor 60 Jahren begann in Berlin der Neuanfang nach dem Zweiten Weltkrieg. Die taz stellt Orte vor, die während der Nazi-Diktatur eine besondere Bedeutung hatten, und sagt, was aus ihnen geworden ist.

Die Geschichte des runden, gelben Backsteinbaus in der Kreuzberger Fichtestraße wäre schnell erzählt, ginge es hier nur um einen Gasometer aus den 1870er-Jahren, der seit den 1920er-Jahren nicht mehr gebraucht wurde, weil die Berliner von nun an ihre Straßenlaternen mit Strom statt mit Gas fütterten. Aber das von ein paar Bäumen, viel Gestrüpp und ein paar Ziegen umgebene Gebäude wurde in seinem zweiten Leben zu einem prägenden Ort für ungezählte Menschen, im Guten wie im Schlechten. Dieses zweite Leben endete bei Kriegsende vor sechzig Jahren

Als der Bombenkrieg im Herbst 1940 die Reichshauptstadt erreichte, wurde aus dem 21 Meter hohen und 56 Meter breiten Gasometer ein Großbunker für etwa 6.000 Menschen. 1,80 Meter dicke Stahlbetonwände und eine drei Meter starke Decke ließen die zuvor weiträumige Halle zur Festung werden. Zum Labyrinth machten es die sechs Ebenen, auf denen rund 760 kleine Kammern entstanden, überwiegend erbaut von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern. 24 Küchen, zwei Heizkessel und ein Notstromaggregat machten den Bau zur Heimstatt für Ausgebombte, die nach den Angriffen nirgendwohin zurückkonnten.

Je stärker der Bombenkrieg in Berlin wurde, desto mehr Menschen zwängten sich in die stickigen Räume. Luftschutzwarte berichteten, beim Luftangriff in der Nacht vom 2. auf den 3. Februar 1945 hätten sich etwa 30.000 Menschen in das Labyrinth aus Stahl, Beton und stickiger Luft geflüchtet. Umliegende Polizeireviere brachten während des Bombenhagels Häftlinge im Untergeschoss des Bunkers unter. Damit sie das allgemeine Chaos nicht zur Flucht nutzen konnten. Am 27. April eroberte die Rote Armee den Trutzbau, fünf Tage vor der Kapitulation Berlins. Die Mauern hatten gehalten, kein großer Bombentreffer hatte ihre Festigkeit auf die Probe gestellt.

Die dicken Wände retteten dem so genannten Fichtebunker auch in Friedenszeiten die Existenz. Die Zerstörung des Baus wäre zu teuer gewesen, und Wohnraum war Mangelware. Und so begann das dritte Leben des Rundbaus. Die Berliner Jugendarrestanstalt brachte von 1945 bis 47 hier verwahrloste Waisen und junge Straftäter unter. Danach war es mal Flüchtlingslager, mal Altersheim und zuletzt ein Obdachlosenasyl, in dem Bedürftige für 2 Mark 50 pro Tag eine Kammer mieten konnten. Im September 1963 verließen die letzten Bewohner den Fichtebunker, die hygienischen Bedingungen waren unerträglich geworden.

Der Kalte Krieg schenkte dem Fichtebunker sein viertes und bislang letztes Leben. Tonnenweise lagerte der Westberliner Senat Lebensmittel im kühlen Rund ein, aus Angst vor einer neuen Blockade durch die Sowjets. Erst 1990 wurden die so genannten Senatsreserven aufgelöst.

Großinvestoren sind bislang vor der teuren Entkernung des Gemäuers zurückgeschreckt. Da gab es jenen Investor, der in den späten 1990er-Jahren ein Hotel im Rundbau erbauen wollte. Ein anderer hatte den Plan, Wohnungen auf dem Dach der Betonfestung zu bauen. Nichts davon wurde Realität. „Heute gibt es nur ein paar private Interessenten“, sagt Irina Dähne vom Berliner Liegenschaftsfonds. Im Herbst soll ein Interessebekundungsverfahren anlaufen.

Zumindest ein Teil des Geländes hat seit Jahren zwei Mieter gefunden. Ein paar der fünf Flachbauten, die im Krieg rund um den Koloss errichtet wurden, nutzt ein Unternehmen als Stellplatz für seine Propangasflaschen. In einem weiteren Anbau baut der Setdesigner Max Moormann seit sieben Jahren Filmkulissen. Dort, wo im Krieg eine Großküche die Bunkerbewohner versorgte. Die Stahltür zum benachbarten Bunker-Labyrinth öffnet er nur selten. Moormann schüttelt den Kopf: „Es ist mir einfach zu klaustrophobisch.“

MATTHIAS LOHRE