Explosives Scheitern

AUS BERLIN BARBARA BOLLWAHN

Das Hemd des korpulenten Mannes war bis zum Hosenbund offen und die linke Seite ausgebeult. Darunter verbarg sich eine scharfe Panzermine, gut gefüllt mit Sprengstoff. Die Pförtnerin hielt die Auswölbung für harmlos. Sie glaubte, dass sich der Mann verletzt habe und einen Verband trage. Deshalb tat sie an diesem 14. September 2004 gegen elf Uhr am Vormittag das, was sie bei jedem Besucher des Berliner Landessozialgerichtes macht, der vor dem Panzerglasfenster des Pförtnerhäuschens steht. „Bitte schön!, was kann ich für Sie tun?“, fragte sie. „Ich will zur Rechtsantragsstelle“, antwortete der Mann.

In der Rechtsantragsstelle können sich Versicherte, die eine Entscheidung der Krankenkasse, des Arbeitsamts, der Rentenversicherung anfechten oder Berufung gegen ein Urteil einlegen wollen, bei der Formulierung ihres Schriftverkehrs helfen lassen. Die Pförtnerin drückte den Türsummer und ließ den Mann in das dreistöckige neoklassizistische Gebäude neben dem früheren Hamburger Bahnhof und gegenüber dem Lehrter Bahnhof in Berlin-Mitte.

Wenige Sekunden später lief sie ihm nach. Sie hatte ein seltsames Gefühl. Als sie den Mann eingeholt hatte, sah sie, dass er unter dem Hemd keinen Verband trug. Was sie stattdessen sah, beschrieb sie später etwas flapsig so: „Es war schön groß, rund und grün. Ich dachte, so sieht meine Heizung vom Gewächshaus aus.“ Die Frau, 56 Jahre alt, von kleiner Statur und resolut, fragte „Was ist das?“ – „Eine Bombe.“ Die Pförtnerin glaubte an einen dummen Scherz. „Natürlich. Halt! Stopp! So geht das nicht.“ Da zog der Mann eine Pistole und richtete sie auf die Frau. „Hau ab, das regele ich allein!“ Die Pförtnerin war überzeugt, dass die Waffe nicht geladen war, und stellte sich dem Mann in den Weg. „Nee, nee, so geht das schon gar nicht.“

Der Mann stürmte an ihr vorbei, die 30 Treppenstufen hoch in die erste Etage. Er wollte nicht in die Rechtsantragsstelle im Erdgeschoss. Das hatte er nur gesagt, um ungehindert an sein Ziel zu kommen: Saal 113. In dem Sitzungsaal, wo an diesem Vormittag der Fall irgendeines Versicherten verhandelt wurde, wollte er abrechnen. Mit einer funktionsfähigen russischen Panzermine TM 62 M mit 7,5 Kilogramm TNT-Sprengstoff samt selbst gebautem Zeitzünder. Mit einer durchgeladenen, halb automatischen 9-mm-Pistole „Makarow“ mit vollem Magazin. Mit zwei Feuerwerkskörpern, die mit Reißzwecken präpariert waren und die Sprengkraft von Handgranaten hatten.

Tickende Zeitbombe

Wegen versuchter Geiselnahme und Verstoßes gegen das Sprengstoff- und Waffengesetz muss sich der 62-jährige Rentner Wolfgang F. seit Ende März vor dem Berliner Landgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er zum Tatzeitpunkt in seiner Steuerungsfähigkeit erheblich eingeschränkt war, und erstrebt eine Unterbringung in einer psychiatrischen Klinik. Dazu ist ein medizinischer Sachverständiger bestellt, der ein Gutachten über ihn anfertigen soll.

Wolfgang F. fällt es sichtlich schwer, sich von der Anklagebank zu erheben. Mit der rechten Hand zieht er seinen massigen Körper, der mit einer schwarzen Jogginghose, einem weinroten Hemd und einer Freizeitweste bekleidet ist, am Tisch empor. Kaum steht er auf wackligen Beinen, stützt er sich mit beiden Händen auf der Tischplatte ab, sodass sich am Hinterkopf ein dicker Wulst bildet. „Ihnen fällt es heute schwer aufzustehen?“, fragt der Vorsitzende Richter mitfühlend. Leicht pampig antwortet Wolfgang F. an der Frage vorbei: „Ich bin ja auch früh aufgestanden.“

Die Verlesung der Anklageschrift lässt ihn ähnlich kalt. „Er wollte das Gerichtsgebäude in die Luft sprengen und gegebenenfalls Leute töten, um öffentlichkeitswirksam Richter für ärztliche Behandlungsfehler verantwortlich zu machen“, fasst der Staatsanwalt zusammen, während Wolfgang F. in Aktenordnern blättert und Wörter auf kleine Zettel krakelt.

Was läuft im Leben eines Menschen schief, dass er zu einer tickenden Zeitbombe wird? Wolfgang F. hatte bei seiner Festnahme angekündigt, die Verhandlung als Forum zu nutzen, „um alle Machenschaften der Justiz aufzudecken“. Auf Anraten seines Anwalts, den er sich zusätzlich zu seinem Pflichtverteidiger genommen hat, schweigt er aber. Das fällt ihm nicht leicht. Immer wieder rutscht ihm ein Kommentar heraus. „Sauerei“, „Alles Verbrecher“. Einmal zielt er mit der Hand auf den Gutachter, als wäre es eine Pistole.

1972 hatte der gelernte Schlosser einen Arbeitsunfall. Er fiel eine Treppe hinunter und verletzte sich am Rücken. Nach mehreren Operationen und anhaltenden Schmerzen wurde ihm eine 30-prozentige Einschränkung seiner Erwerbsfähigkeit und eine kleine Berufsrente anerkannt. Der einzige Sieg in den vergangenen 30 Jahren. Er hielt sich für 100 Prozent arbeitsunfähig und war überzeugt, dass Ärzte bei Operationen gepfuscht haben und Versicherungen, Gutachter und Richter ihn betrügen.

Der Richter verliest Protokollnotizen, die die Verzweiflung des Angeklagten bereits wenige Jahre nach dem Unfall illustrieren. Sechs Jahre nach dem Unfall brannte ihm schon einmal die Sicherung durch. Damals betrat er die Praxis eines Nervenarztes, der ein Gutachten über ihn erstellen sollte, mit einem Kilogramm selbst gemischten Sprengstoff und drohte, „alle in die Luft zu sprengen“. Er richtete eine Pistole auf den Arzt und wollte ihn zwingen, ein von ihm für mehrere Mediziner vorbereitetes Schreiben zu unterzeichnen. „Zusammen sind wir schuldig, schwerste Verletzungen des hypokratischen Eids begangen zu haben.“ Weil eine Sprechstundenhilfe, ähnlich wie die couragierte Pförtnerin im Landessozialgericht, geistesgegenwärtig die Polizei informierte, konnte Wolfgang F. gestoppt werden.

Er wurde damals wegen der gleichen Delikte wie jetzt angeklagt und kam mit einer Bewährungsstrafe davon. Der an seine ärztliche Schweigepflicht gebundene Nervenarzt hatte damals als Zeuge erklärt: „Ich kann nur sagen, der Mann tut mir Leid.“ An der Schuldfähigkeit von Wolfgang F. wurde in keinster Weise gezweifelt. Weitere Protokollnotizen belegen, dass der Angeklagte 1989 von Polizisten aus einer öffentlichen Sitzung des Sozialgerichts rausgeworfen wurde, weil er den Richter wüst beschimpft hatte.

Zwei Jahre später drohte er einem Prozessgegner am Telefon, ihn in die Luft zu sprengen. Trotz all dieser Ausraster bleibt es rätselhaft, warum niemand erkannte, dass Wolfgang F. offenbar psychiatrische Hilfe brauchte.

Die Familie des Angeklagten, die nicht wusste, dass er in einem Schuppen neben dem Wohnhaus in Vogelsang, einem kleinen Ort in Brandenburg, Panzerminen und Waffen lagerte, ist auch der Meinung, dass ihm Unrecht geschehen ist. Die Ehefrau und zwei Töchter verfolgen den Prozess in einer ähnlich teilnahmslosen Haltung wie er.

In einer Verhandlungspause sagt eine der Töchter, eine sympathische 38-Jährige: „Es ist nicht gerecht, was mein Vater getan hat. Aber es ist ja nichts passiert.“ Sie glaubt, „dass die Geschichte nicht so ein Ausmaß genommen hätte“, wenn er nach der Bedrohung des Nervenarztes Hilfe bekommen hätte. Die Ehefrau, eine verhärmte 62-jährige Hausfrau, hat, wie ihr Mann, auf einem kleinen Zettel Stichpunkte notiert. Einige liest sie hastig vor: „Wer gehört hinter Gitter oder in die Psychiatrie?“ – „Diabetes durch versaute OP“ – „Starke Schmerzen“. Schnell steckt sie den Zettel wieder weg. „Ich hoffe, dass er mal Recht kriegt. Dass ihm endlich geholfen wird. Dass er nicht als Simulant hingestellt wird“, sagt sie mit müder Stimme.

Rache für OP-Kosten

Jeder Bürger hat die Möglichkeit, Entscheidungen von Leistungsträgern anzufechten, ohne sich dafür einen Anwalt nehmen zu müssen. Zwischen November 2002 und Oktober 2003, das sind die aktuellsten Zahlen, die vorliegen, wurden beim Berliner Sozialgericht, also in der ersten Instanz, gut 18.000 Klagen eingereicht. In der zweiten Instanz, beim Landessozialgericht, gingen fast 2.500 Berufungen ein. In wie vielen Fällen die Versicherten Erfolg haben, darüber wird keine Statistik geführt. „Für unsere Arbeit ist das unerheblich“, sagt der Gerichtspressesprecher Konrad Kärcher. Aber es gibt eine Tendenz. „In der Regel hat der Leistungsträger mehr Erfolg als der Versicherte.“ Das heißt: „Im Allgemeinen haben die Behörden richtig gearbeitet.“

Kärcher, selbst Richter am Landessozialgericht, weiß aus eigener Erfahrung von „deutlichen Unmutsäußerungen“ Versicherter. Jeder Richter, jeder Verwaltungsmitarbeiter am Gericht sei schon beschimpft worden. „Das gehört dazu“, sagt Kärcher. „Man darf da nicht besonders empfindlich sein.“ Werden Besucher durch aggressives Verhalten auffällig, kann das Gericht ein Hausverbot aussprechen. Die Zahl dazu bewege sich „im einstelligen Bereich“. Überlegungen, Wolfgang F. ein Hausverbot auszusprechen, sind überflüssig. Wenn nächsten Dienstag das Urteil gesprochen wird, wird er ohnehin erst einmal weg sein. Wohl weniger im Gefängnis als in einer psychiatrischen Klinik.

Nachdem Wolfgang F. im September 2004 mit dem Leben von etwa 200 Gerichtsmitarbeitern gespielt hat, schrieben die Medien ganz schnell, dass er aus Ärger über ein Urteil des Landessozialgerichts gehandelt habe. Doch das stimmt nicht ganz. In der Tat war er wütend wegen eines Urteils, das nicht zu seinen Gunsten ausgefallen war. Er hatte Berufung eingelegt gegen die Entscheidung des Sozialgerichts, die Kosten einer Operation in Höhe von 2674,58 Mark nicht zu übernehmen. Die Berufungsverhandlung fand aber nicht etwa im vergangenen Jahr statt, sondern bereits im Jahr 1991.

Drei Wochen vor der Tat hat Wolfgang F. nach Angaben der Staatsanwaltschaft erfahren, dass ihm ein Bein amputiert werden soll. Ob das der Auslöser war, ist unklar. Die negative Entscheidung zur Übernahme der Operationskosten fiel jedenfalls in genau dem Saal, den er im vergangenen Jahr mit einer geladenen Pistole in der Hand und einer scharfen Panzermine vor dem Bauch stürmen wollte.