„Auf einmal ist alles kaputt“

Am zweiten Verhandlungstag spricht die Mutter der getöteten Levke. Sie brauche die Konfrontation mit dem Täter, um den Verlust ihrer Tochter zu verarbeiten. Dass ihre Familie jemals in die Normalität zurückfindet, glaubt sie nicht

Sie hat Zeit, niemand unterbricht sie, während sie mit leiser Stimme über das berichtet, was ihrer Familie geschehen ist. Manchmal stockt Ulrike Straßheim, macht eine Pause und spricht dann rasch weiter. Die Mutter der vor einem Jahr ermordeten achtjährigen Levke aus Cuxhaven beschreibt im Stader Schwurgerichtssaal, „wie es ist, auf diese Weise ein Kind zu verlieren“.

Es ist Dienstagmorgen, zweiter Verhandlungstag im Prozess gegen Marc Hoffmann aus Bremerhaven. Im Polizeiverhör hat der 31-jährige Angeklagte gestanden, die Kinder Levke Straßheim und Felix Wille verschleppt, missbraucht und anschließend getötet zu haben. Flankiert von zwei Justizangestellten sitzt er da und versucht, jeglichen Blickkontakt zu vermeiden. Mal verbirgt er sein Gesicht hinter dem auf dem Tisch aufgestützten Arm, dann sinkt sein Kopf vornüber auf die Anklagebank: Ulrike Straßheim erzählt in diesem Augenblick vom Leben mit ihrem Mann Thomas, vom Wunsch nach drei Kindern und dem erst vor zwei Jahren bezogenen Einfamilienhaus. „Und auf einmal“, sagt sie, „auf einmal ist alles kaputt.“

Als Tag, an dem ihre Familie zerbrach, wird die 39-jährige Krankenschwester den 6. Mai 2004 im Gedächtnis behalten: „Mama, Levi ist weg!“ Mit diesen Worten sei sie damals von den beiden älteren Kindern Wencke und Hauke zuhause empfangen worden.

Für die Familie beginnen Monate der quälenden Fragen zwischen Bangen und Hoffen: Wo ist unsere Tochter? Was muss sie durchleiden? Im August trifft dann die Nachricht ein, dass die Polizei den Leichnam der Achtjährigen in einem Waldstück bei Attendorn in Nordrhein-Westfalen entdeckt hat. Als die Sonderkommission ein Vierteljahr später Hoffmann als Tatverdächtigen festnimmt, kommt bei den Straßheims nach ihrer Aussage „keine Genugtuung“ auf. Allenfalls „Erleichterung, dass andere Kinder in Zukunft vor einem Menschen wie ihm bewahrt werden“. Das über Hoffmann zu verhängende Strafmaß interessiere sie nicht, erklärt die um Fassung bemühte Mutter von Levke. Denn eine gerechte Strafe wird es in ihren Augen nicht geben. „Er“, sagt Ulrike Straßheim in Richtung Anklagebank, „er lebt weiter. Und Levke nicht.“

Warum setzt sie sich freiwillig mit dem mutmaßlichen Mörder ihrer Tochter in einen Raum? „Ich brauche das zur Verarbeitung“, antwortet Ulrike Straßheim. „Die Teilnahme am Prozess gehört zum Weg dazu. Wenn ich ihn nicht zu Ende gehe, dann wird mir für immer ein Stück fehlen.“ Dass dieser Weg zurück zur Normalität führt, glaubt die Nebenklägerin indes nicht: „Wir sind von Angst umgeben.“

Sie erzählt, was Levkes Tod für ihre Ehe und letztlich für die Versorgungslage der Familie bedeutet. Frau Straßheim hat ihren Beruf an den Nagel gehängt. Zwangsläufig. Nachdem ihre Tochter verschwand, war sie „nicht mehr im Stande, für 180 Patienten zuständig zu sein“. In einer Selbsthilfegruppe hätten sie und ihr Mann Thomas inzwischen ein wenig Halt gefunden. Und sie ist sogar überzeugt, das Gesicht von Marc Hoffmann vergessen zu können. Irgendwann. Andere Eindrücke bleiben: Hört sie einen Hubschrauber kreisen – typisches Begleitgeräusch der polizeilichen Suchaktionen nach Levke –, dann ist der 6. Mai 2004 für Ulrike Straßheim wieder zum Greifen nah. Kai Koppe