strafplanet erde: mütter, nazis und assoziationsschleudern von DIETRICH ZUR NEDDEN
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Mit schwermetallischem Getön fiel die Tür zu. Stössel hatte beschlossen, die Sonntagsschicht zu beenden, das war nicht zu überhören. Stössel hat sein Büro eine Etage über meinem, die Lagerhalle seines Im- und Exporthandels liegt darunter. In der Lagerhalle lagert nichts außer Staub und Spinnweben. Ich werde den Verdacht nicht los, dass Stössel gar keinen Im- und Exporthandel betreibt, sondern nur so tut. Aber wenn weder die Finanzbehörden noch die Polizei Anlass haben, den Staub und die Spinnweben in Augenschein zu nehmen … Solange die sich nicht darüber den Kopf zerbrechen, warum und woher man Staub und Spinnweben importieren, warum und wohin man Staub und Spinnweben exportieren sollte, dann soll’s einem autoritätshörigen Charakter wie mir gleich sein. Keck perlend pfiff Stössel ein Beatles-Potpourri. Nach den ersten acht Noten von „Here Comes the Sun“ schwenkte er auf „A Hard Days Night“, um dann in „Eight Days a Week“ einzubiegen. Sonderbar, dass ich das durch die Stahltür meines Kontors vernahm. Es wird Intuition gewesen sein – auch, dass er gleich mit der Faust gegen die Stahltür hämmern würde.

Das letzte Mal, als Stössel gegen die Tür gehämmert und ich geöffnet hatte, lud er mich „auf ein Bier“ ein. Er habe Ramadan, sagte Stössel, seit zwei Wochen nehme er keinen Alkohol zu sich, zwei lägen noch vor ihm. „Demnach ist heute ist Bergfest und das wird gefeiert.“ Es wurde ein langer Abend. Stössel kippte etwa die Menge an Bier in sich hinein, der er sich zwei Wochen lang enthalten hatte. Es klopfte. Heute sei Sonntag, begrüßte mich Stössel, und zwar nicht irgendein Sonntag, sondern Tag der Befreiung und Muttertag in einem. Ob ich nicht …

Wir landeten im „Mandarin Pavillon Avanti“, ein Bringdienst und Schnellimbiss, der mediterrane mit chinesischer und indischer Küche souverän verbindet. Das Prädikat „mediterran“, sagte Stössel beim Studium der Faltkarte, habe ihm noch nie eingeleuchtet. „Von Spanien angefangen Richtung Westen einmal um’en Pudding, das ist doch uferlos. Paella, Baguette, Pizza, Cevapcici, Giros, Döner und da ist erst halb rum. Das ist gastronomisch komplett nicht zu bewältigen.“

Offenkundig keine Reaktion erwartend, wollte er das nur mal so loswerden, das war es nicht, worüber er plaudern wollte. Sondern: „Wissen Sie, wenn die Nazis den Muttertag erfunden hätten, wäre die Paarung heute ein dankbares Thema fürs launige Meinungsfeuilleton gewesen. Aber das Mutterkreuz, das haben die Nazis erfunden und meine Großmutter mütterlicherseits bekam eins in Bronze.“ – „Tatsächlich?“, sagte ich und war gespannt, welches Tempo seine Assoziationsschleuder erreichen würde. Stössel sagte, er gehöre „ja praktisch noch“ zur Nachkriegsgeneration. 1961 geboren, also sechzehn Jahre nach Kriegsende. „Jetzt rechnen Sie mal sechzehn Jahre von 2005 zurück. Na? Ist nicht 1989 gefühlt ungefähr gestern gewesen?“

Es wurde spät. Als die letzte Bestellung ausgetrunken war, dachte ich kurz an den 31. Oktober. Spätestens dann würde es wieder an die Tür klopfen. Wenn der Reformationstag der lustgehemmten Protestanten und der Weltspartag zusammenfallen.