Börsenland ist abgebrannt

Derzeit leidet die Deutsche Börse unter den gleichen Bedingungen wie alle Unternehmen, die an ihr notiert sind. Welcher der Bosse hat denn da früher beim Börsenspiel auf der Schule nicht aufgepasst?

VON CLEMENS NIEDENTHAL

In meiner Generation etablierte sich eine neue Spezies unter den Modernisierungsverlierern. Keine Bauernsöhne, die draußen im kratzputzverzierten Aussiedlerhof aus den Sechzigern ihren Landmaschinen beim Rosten zuschauen durften. Keine Bergmannskinder, die auch gerne unter Tage gefahren wären, wo längst Schicht im Schacht war.

Die Modernisierungsverlierer der Jahrtausendwende kamen aus dem Mittelstand. Und für sie war das gute Geld zum Problem geworden – und die Gier nach noch besserem. Auf einmal hatte sich eine ganze Gesellschaft an der Börse verspekuliert, wurden die Aktionärsversammlungen von Medien- oder Telekommunikationsunternehmen zu Kaffeefahrten der Betrogenen.

Börsenspiel im Unterricht

Zurück ging es mit einem bunten Beutel lapidarer Präsente. Und mit der Gewissheit, einen viel zu hohen Preis bezahlt zu haben. In diesem Jahr immerhin zahlt die Telekom seinen Volksaktionären eine Rendite von 67 Cent pro Wertpapier. Kleine Brötchen statt Sahnetorten, aber auch sowas kann zu Magenverstimmungen führen. Oder zur Schadenfreude, aber das ist eine andere Geschichte.

Ein paar Jahre früher, 1989, besuchte ein Mann von einem örtlichen Kreditinstitut meine Schulklasse. Wahrscheinlich trug er ein fliederfarbenes Oberhemd, und wahrscheinlich hatte er auch einen mattschwarzen Samsonite-Koffer mit einem albernem Zahlenschloss unter dem Arm. Sicher aber begeisterte er uns für ein beliebtes Gesellschaftsspiel der ausgehenden Yuppie-Ära: das Börsenspiel der Volks- und Raiffeisenbanken, mit dem eine ganze Jahrgangsstufe zu Venture-Kapitalisten gedrillt werden sollte.

Mehr noch als ein Training in postfordistischer Volkswirtschaftslehre war das eine lesson in lifestyle, eine Lektion in Sachen Lebensstil. Man bekam ein Gefühl davon, wie sich Kapitalismus auch anfühlen kann. Nicht wie Weltspartag. Sondern irgendwie größer, mächtiger.

Längst hatte die Wall Street einen ähnlich klangvollen Namen wie der Broadway oder die Fifth Avenue. Mindestens. Und von den großformatigen, detailtiefen Fotografien eines Andreas Gursky ist vielleicht jene am prägnantesten, die aus der Übersicht in das Innere einer Börse blickt und die Hektik dieses Ortes einfängt, das Zerrinnen der Zeit und oft auch des Zasters. Die allzu ordentlich aufgereihten Arbeitsplätze der Wertpapierhändler. Und die umtriebige, getriebene Unordnung im Minuten-, nein, Sekundenhandel.

Nicht ohne Grund wurde ja gerade der Börsenbroker als Erstes mit dem so genannten Burn-out-Syndrom assoziiert, das wiederum selbst längst zu einer viel, viel größeren Metapher geworden ist. Nicht im Sinne eines Neil Young allerdings. Kein punkiges „It’s better to burn out than to fade away“. Überhaupt waren es ja gerade die vermeintlich punkigen Unternehmen, deren Aktienkurse als Erste kollabierten.

War Werner Seifert, bis Montag noch Vorstandschef der börsennotierten Aktiengesellschaft Deutsche Börse, ausgebrannt? Leidet auch Aufsichtsratsboss Rolf Breuer („Am liebsten träte ich sofort zurück“) unter dem Burn-out-Syndrom? Jedenfalls wird er noch vor Ende des Jahres verschwunden sein, wie irgendwann vielleicht auch das ganze schöne Unternehmen „Deutsche Börse“ an sich.

Umtriebiges Wunderkind

Dieses deutsche Wunderkind, das einmal selbst – wenn man es so formulieren will – zur Mutter so vieler deutscher Wunderkinder geworden war. Zur Mutter der Haffa-Brüder und der Hacker, die für ein paar Jahre mit irgendeiner Sicherheitssoftware reüssierten. Und deren Firmen längst so tot sind wie der Neue Markt selbst. Für ein paar Monate ließ sich unter ihrer Schürze ein schöner Sommer verleben.

Nun stehen bereits böswillige Schürzenjäger bereit, um zu tun, was das ehemalige Vorzeigeunternehmen eigentlich selbst geplant hatte: eine feindliche Übernahme. Denn auch Börsen können offensichtlich nur noch unter den Bedingungen existieren, die sie selbst den an ihr notierten Kapitalgesellschaften auferlegen. Fressen oder gefressen werden. Meist, und das musste Werner Seifert nun erfahren, bliebt da nicht mal Zeit zum Verdauen.

Das Börsenspiel mit seinen spielerischen Kursabfragen gehört übrigens noch immer zum erlebnisorientierten Lehrangebot an deutschen Schulen. Belehrungen über die Chancen oder Folgen eines Kapitalismus, der den Gesellschaftsvertrag längst aufgekündigt hat, suchen wir im Lehrplan vergebens. Genau da gehört die Börse aber hin. Der Mann von der örtlichen Raiffeisenkasse aber dürfte für diese Mission kaum geeignet sein.