ARME TOURISTEN: DER REICHEKIEZ SETZT WEITER AUF ZIGARETTEN, ALKOHOL UND ASPIRIN
: Im Niemandsland zwischen zwei Hotspots

DORIS AKRAP Anderes Temperament

Das letzte Mal, als das andere Temperament hier die Neuen Werte vertreten durfte, hat es sich über die staubige unbeleuchtete Hautpverkehrsader im Görli aufgeregt, die zwischen Wrangelkiez und … ja, was eigentlich verläuft? Ich schrieb damals „Nordneukölln“. Das stimmt aber nur, weil das Ziel der Verkehrsteilnehmer so heißt.

Doch bevor diese von dem einen Trendkiez in den anderen Trendkiez gelangen, müssen sie eben noch durch dieses Niemandsland, das nur langjährige Anwohner als „Reichekiez“ kennen. Der liebevoll „Reiche“ genannte Riegel zwischen Wiener Straße und Maybachufer ist aber indessen keine Unbekannte: eine riesige Schneise in einem toten Eck, dass seit Jahren jeder Belebung widersteht.

Dass dem Viertel der Status eines „Problemkiezes“ zugesprochen wird, hat wohl eher damit zu tun, dass sonst keine staatliche Förderknete lockergemacht werden kann. Wer potenziell als krimineller Jugendlicher ins Fernsehen kommen will, wird seine Herkunft aus dem „Reichekiezgang“ eher verschweigen müssen.

Seinen nicht vorhandenen schlechten Ruf hat der Kiez höchstens wegen miserabler Anbindung an den öffentlichen Verkehr – der M 29 fährt lediglich 500 Meter auf der Reiche, Plus heißt jetzt BioCompany, wo keiner einkaufen geht. Die schlimmsten Gentrifizierer wohnen im „Car-Loft“, wo sie ihre Karre direkt vor der Penthousetür im 5. Stock parken, die Wände des Jugendhauses „Chip“ sind nur noch mit „Ficken“ und nicht mehr mit „Tod Israel“ beschmiert und das linke Hausprojekt „Reiche“ hatte schon lange keinen Polizeibesuch mehr.

Die Partypendler, die die Reichebrache durchqueren, kehren auf direktem Weg liegenden „Bellmanns“ ein und machen erst wieder Stopp bei der „Kuchenmanufaktur Koriat“, auf Nordneuköllner Territorium.

Abseits dessen aber haben sich in den vergangenen Gentrifizierungsjahren diverse Fake-Franzosen, -Italiener oder -Spanier zu etablieren versucht, doch wer wie ein Bastard Boullabaise mit Senf serviert oder italienisch mit deutlichem Südberliner Akzent spricht, hat im globalisierten Authentizitätswahn keine Chance. Hartnäckig hält sich zwar ein mittelhochpreisiges elsässisches Weinlokal, aber ansonsten hat auf der Reiche keine „kreative“ Geschäftsidee jemanden reich gemacht.

Aus den diversen Internetläden sind deshalb inzwischen wieder gewöhnliche Berliner Kioskläden mit traditionell reichhaltigem Angebot an Zigaretten und Alkohol geworden. Die alte Apotheke trotzt der Gentrifizierung und stellte nur Aspirin ohne Complex statt homöopathische Mittel ins Schaufenster.

Das andere Temperament war mit seiner Intervention im vergangenen Jahr erfolgreich: Die dunkle Staub- und Matschpiste durch den Görli wurde geteert und Lampen in ausreichender Menge aufgestellt. Für die Reiche sieht das andere Temperament keine solche banale Lösung. Denn die Herausforderung ist groß: Einfach weiter quasitouristenfreies Niemandsland zwischen zwei Hotspots bleiben.