Im 17. Stock der Vergangenheit

Ein Haus vor dem Abriss und Familienbilder aus der Kindheit: Wiebke Loeper erforscht in ihrem Buch „Moll 31“ die Arbeit von Erinnern und Vergessen

„Das Haus ist unser erstes All. Es ist wirklich ein Kosmos.“ So lautet das Motto des französischen Philosophen Gaston Bachelard, das dem Buch „Moll 31“ vorangestellt ist, und es trifft wirklich den Punkt. Nichts brennt sich derart störrisch in die Erinnerung wie die erste Wohnung, das erste Haus, der erste Garten mit Kartoffelrosen und knirschenden Kieswegen, die erste Straße, die es beim Gang zum Kindergarten zu überqueren galt. Bis in alle Ewigkeit wird man die Kuchenkrümel unterm Tisch der ersten Küche auf alle Küchen übertragen, die einem in Büchern begegnen, wird sich der Blick vom ersten Balkon einstellen, ist von irgendeinem Balkon die Rede.

Besonders interessant wird es, kehrt man an den Ort der Erinnerung zurück. Wie aus dem Lot scheinen plötzlich sämtliche Maßstäbe, alles zwergenhaft geschrumpft, und in keinem Verhältnis zu dem, was man im Kopf hat. Nicht nur enttäuscht, sondern fassungslos muss Wiebke Loeper gewesen sein, als sie Anfang der Neunziger in die Wohnung ihrer Kindheit zurückkehrte, in den 17. Stock eines Hauses in der Mollstraße. Weil es auf sandigem Fundament gebaut war, stand es da bereits leer und ist heute abgerissen.

In ihrem Buch „Moll 31“, das 1995 als Künstlerbuch erschien und nun mit einem Nachwort von Annett Gröschner wieder aufgelegt wurde, hat die 1972 in Ostberlin geborene Künstlerin Fotos dieser Nachforschung neben Familienbilder aus den Siebzigerjahren gestellt: Ihre Fotos einer leeren, demolierten Wohnung neben die des Vaters, als die Mutter, Bärbel Loeper, noch lebte und die DDR noch hoffen ließ. Diese Fotos bitten immer wieder zum Vergleich, und man würde sie am liebsten wie Folien auf den Overhead-Projektor legen: hier die Bilder des Verschwindens und da die aus einer Zeit, in der nur die Gegenwart zählte, in der noch utopisch gewohnt wurde und Mieter durch variable Zwischenwände Subjekte der Gestaltung werden sollten. Der elanvolle, zukunftssichere Habitus junger Leute wie dieser Eltern lässt sich heute kaum von dem junger Leute im Westen in den Siebzigern unterscheiden.

Ein schönes Buch – nicht nur für alle, die in den Siebzigerjahren Kind waren, sondern auch für alle, die noch einmal einer untergegangenen Welt nachspüren wollen, einer Vergangenheit, die nicht einholbar ist, einer Zäsur, die wehtut und doch das Denken freisetzt. Ganz ohne Nostalgie und andere Sentimentalitäten. SUSANNE MESSMER

Wiebke Loeper: „Moll 31“. Edition J.J.Heckenhauer, 2005, 80 S., 29,80 € Heute, 20.30 Uhr, Buchpräsentation, Pro Qm, Alte Schönhauser Str. 48