Ein Kumpel mit Kultstatus

Der Russe Alexander Tutschkin, einer der besten Handballer der letzten zwei Jahrzehnte, warf die TSV Burgdorf in die zweite Bundesliga und will nun mit 40 Jahren seine große Karriere beenden

AUS BURGDORF CHRISTIAN OTTO

Die große, schwere Trainingstasche baumelt an seiner Schulter wie ein kleines Handtäschchen. Und doch ist sie für Alexander Tutschkin, den 2,03 Meter großen Hünen mit den prankenartigen Händen, zu einer schweren Last geworden. „Ich bin müde und satt. Die Ärzte lachen doch mittlerweile, wenn sie meinen geschundenen Körper untersuchen“, sagt der 40-Jährige und schleicht zu einer seiner letzten ernst gemeinten Trainingseinheiten in die Sporthalle. Mit Tutschkin beendet einer der weltweit erfolgreichsten Handballer am Ende dieser Saison seine Profikarriere. Der Russe wuchtet die Bälle nach wie vor fast nach Belieben ins Tor, aber sein Körper spielt nur noch bedingt mit. Fünf Europapokal-Titel, drei olympische Medaillen, elf Operationen, mehr als 20 Jahre Profisport – die Legende von hinten rechts möchte endlich in den Handball-Ruhestand.

Dass der einst beste Rückraumspieler der Welt in der niedersächsischen Provinz abtritt, mag merkwürdig klingen. Nach einem von den vielen Großen, die den Absprung nicht rechtzeitig geschafft haben. Im Sommer 2004, als Tutschkin mit der russischen Auswahl den beiden olympischen Goldmedaillen von 1988 und 2000 noch eine bronzene hinzufügte, sollte bereits Schluss sein. Doch der begnadete Linkshänder machte weiter und hat die TSV Burgdorf, einen kleinen Klub im Umland von Hannover, gerade in die 2. Bundesliga geworfen. Bis fünf Uhr morgens hat Tutschkin mitgefeiert. Bei der Aufstiegssause in der Aula der Gudrun-Pausewang-Schule, bei Heimspielen der Burgdorfer zum VIP-Raum unfunktioniert, trank er wie ein ganz normaler Handballer sein Siegerbier. Weil der Sport sein Leben ist. Und weil er bis heute von ihm lebt. Aber wie viele Euro ist es wert, einen Namen wie Tutschkin aufs Spiel zu setzen? „Ich habe mich schon oft gefragt, ob ich das Spielen in meinem Alter noch nötig habe. 22 Jahre Handball wirfst du nicht einfach so weg“, sagt der Mann mit den spindeldürren Beinen. „Als Handballer kannst du leider nicht so viel Geld zur Seite legen. Und ich habe viele Familien zu ernähren.“

Wer Tutschkin in der Regionalliga beobachtet, bei seinen brachialen Würfen fast aus dem Stand, riskiert im Kopf ein kleines Durcheinander der Bilder. Während die anderen verteidigen, hockt er beinahe regungslos auf der Auswechselbank, ein weißes Handtuch über das Knie gelegt, und wartet auf seinen nächsten Auftritt im Angriff. So saß er schon in den Achtzigerjahren da, als die Handball-Welt vor seinen Gewaltwürfen in Deckung ging. So ging es weiter, als Tutschkin 1990 von SKA Minsk als einer der ersten Russen überhaupt in die Bundesliga zu TuSEM Essen wechselte. Diese alten Fernsehbilder spuken einem wieder im Kopf herum. Und mittendrin ist dieser wortkarge Riese, dessen linker Arm bis heute wundersame Dinge vollbringen kann. Einen Haken schlagen, hochsteigen, rumms, Tor. „Der hat das alles abgespeichert. Und es funktioniert immer noch“, sagt Nei Cruz Portela, Trainer der TSV Burgdorf, über seinen ebenso prominenten wie engagierten Schützling. Der THW Kiel wollte „Sascha“, wie Tutschkin genannt wird, im vergangenen Jahr noch für sein Erstligateam verpflichten. „Aber die erste Liga, das ist heute nur noch kämpfen und sprinten. Da wird doch kaum noch kombiniert“, findet Tutschkin, der ein Meister des Gewaltwurfs, aber noch vielmehr der klugen Anspiele war. Er ging in die dritte Liga und brauchte nur noch sehr wenig trainieren, um mit seinen Toren Geld zu verdienen. Sie hoffen in Burgdorf immer noch, dass ihr Kumpel mit Kultstatus weitermacht.

Am 2. Juni steht im weißrussischen Tschechow ein Abschiedsspiel an, das angemessen erscheint. Geladen sind die größten seiner großen Mitstreiter wie Magnus Wislander oder Andrej Lawrow. „Diese Partie, das wird ein würdiger Abschied“, meint Tutschkin, der hofft, sich danach eine berufliche Karriere außerhalb des Sports aufbauen zu können. Import-Export, am besten zwischen Weißrussland und Deutschland, so etwas soll es werden. Aber darüber redet Tutschkin, der mittlerweile tadellos deutsch spricht, nicht so gerne. Mehr Spaß macht es ihm, von den vielen Anrufen aus den kleinen westfälischen Vereinen zu erzählen, die ihn verpflichten möchten, weil er doch in Minden wohnt. „Die Leute sagen, ich bräuchte gar nicht trainieren, sondern nur zum Spiel kommen und das Ding ins Tor werfen.“

Handball wäre das für ihn nicht mehr. Aber was dann? Eine Form von Gaudi gegen Geld vielleicht. Eine Chance, den Körper abzutrainieren, ohne den völlig ausgeleierten Knöchel oder den lädierten Rücken vollends zu ruinieren. Vielleicht ist es am Ende auch die Geschichte von einem Künstler, dem die Bälle früher wie durch Zauberei in der Hand klebten und der heute nicht weiß, wo, wann und wie er endgültig loslassen soll.