Brauchen wir diese Verfassung?

ja
Die Union hat 25 Mitglieder. Das Alltagsgeschäft geht nur noch mühsam voran. Zentrale Institutionen wie der Vermittlungsausschuss zwischen Parlament und Rat werden nicht mehr in Anspruch genommen, weil sie zu schwerfällig geworden sind. Da die alten Spielregeln für die neue Situation nicht mehr taugen, wird improvisiert. Dadurch bekommt Europa noch weniger von dem, was es dringend braucht: Demokratie und Transparenz.

Es geht hier nicht um eine Liebeserklärung, sondern um ein Plädoyer für die Vernunft. Niemand kann so ein sprödes, sperriges Konvolut aus fast fünfhundert Seiten eurokratischer Juristenprosa lieben. Schon der Verhandlungsprozess, der zu dem großspurig Verfassung getauften Vertragstext führte, hatte seine ernüchternden Momente, viele sogar. Doch im Vergleich zu dem, was sonst auf EU-Ebene an Feilscherei und Geheimniskrämerei geboten wird, hatte der EU-Konvent immerhin den Vorzug der Transparenz. Jeder konnte im Internet all die auf Papier gedruckten Hoffnungen und Träume nachlesen, die in die Verhandlungsmaschine eingefüttert wurden. Zeitweise war der Konvent davon so berauscht, dass er sich der Illusion hingab, doch noch in die Rolle einer verfassunggebenden Versammlung schlüpfen zu können.

Umso ernüchternder das Ende: Die Regierungschefs beugten sich über den Text, strichen einige der besten Ideen und verkauderwelschten den Rest mit ihrer Bedenkenträgerei. Spätestens da flog der Etikettenschwindel auf, der Konvent entpuppte sich in der Rückschau als genau das, was die Regierungschefs beim Gipfel von Laeken bestellt hatten: ein gewaltiges Debattenforum mit winzigem Reparaturauftrag für die dringendsten Probleme der Praxis.

Da den Regierenden ihr Volk abhanden gekommen war, sollte es durch eine Gaukelei zurückgewonnen werden. Der Konvent wurde als große Wundertüte verkauft, in die jeder Ideen hineinwerfen durfte. Das hat so gut wie keine Spuren im Vertragsentwurf hinterlassen. Die Enttäuschung war verständlicherweise maßlos. Man könnte also sagen, die Regierungen haben sich das jetzt heraufziehende Debakel selber zuzuschreiben. Recht geschieht es ihnen. Das wäre die Reaktion eines trotzigen Kindes, dem versprochen war, dass es beim Backen mithelfen darf und das nun lieber hungrig ins Bett geht, als den Kuchen vom Bäcker zu essen. Im vorliegenden Fall rennt das Kind auch noch durchs ganze Viertel und behauptet, in dem Kuchen sei Gift.

Was ist dieser so genannten EU-Verfassung nicht alles angedichtet worden in den vergangenen Monaten: Aus der Europäischen Union mache sie einen bis an die Zähne bewaffneten Vasallen der USA. Den Parlamentsvorbehalt bei Bundeswehreinsätzen setze sie außer Kraft. Bei unseren Nachbarn lautet die entsprechende Chimäre, in den nächsten Irakkrieg müssten die Franzosen mit ziehen, ob sie wollten oder nicht. Die Todesstrafe werde legitimiert, Scheidung verboten, der wilde Manchester-Kapitalismus zum obersten Gebot erklärt und die soziale Marktwirtschaft abgeschafft.

Müßig zu wiederholen, dass daran kein wahres Wort ist. Dem neuen EU-Vertrag qualitativ neue Eingriffe in die nationale Souveränität zuzutrauen, hieße je nach politischem Standpunkt, ihn zu über- oder zu unterschätzen. Europäische Politik wird sich etwas leichter organisieren lassen, die Prozesse werden ein klein bisschen verständlicher und offener sein, Bürger und nationale Parlamente erhalten etwas mehr Mitspracherecht. Das ist den EU-Gegnern schon zu viel, den meisten EU-Anhängern ist es viel zu wenig. Doch wir werden entweder diesen Kuchen schlucken oder hungrig bleiben. Denn wenn wir diese Vertragsreform nicht umsetzen, werden wir auf lange Zeit keine weitere Chance bekommen. Eine demokratischere, sozialere, eine transparentere und bürgernähere Union ist derzeit nicht mehrheits- geschweige denn konsensfähig. Nicht einmal in Frankreich könnten sich die Gegner des jetzt vorliegenden Textes mehrheitlich auf eine andere Fassung einigen. Zu unterschiedlich sind die Vorbehalte im Nein-Lager. Im Rest Europas sieht es nicht anders aus. In den neuen Mitgliedsstaaten im Osten haben Parteien große Chancen, die viel Geld und wenig Einflussnahme aus Brüssel versprechen. Auch Länder wie Großbritannien und Dänemark wollen nicht mehr, sondern weniger Europäische Union.

An keinem Punkt im europäischen Integrationsprozess lässt sich aufzeigen, dass eine Lähmungsphase einen qualitativen Sprung herbeigeführt hätte. Die EU verfällt in Dornröschenschlaf, die Arbeit bleibt liegen. Nach dem Erwachen geht das Alltagsgeschäft weiter. So diffus die Ängste und Hoffnungen der Bürger in Bezug auf die EU derzeit auch sein mögen, eines geht aus allen Umfragen deutlich hervor: Europa soll in der Welt eine eigenständige Rolle spielen. Wenn der neue Vertrag platzt, wird auch diese Wählererwartung enttäuscht.

DANIELA WEINGÄRTNER

nein
Ich möchte ein vereintes Europa. Ich will es sozial, politisch und demokratisch. Und das zumindest auf dem höchsten gegenwärtig existierenden Niveau. Dieser „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ ist damit nicht vereinbar.

Diese Verfassung bietet Chancen für jene, die Standorte mit niedrigen Steuern und mit immer billigeren Produktionskosten suchen. Denn sie sieht den Abbau von Handelshemmnissen für eine „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ (siehe auch „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ Teil III-177) vor. Sie ist auch interessant für jene, die Waffen herstellen. Denn sie macht die „schrittweise“ Aufrüstung zur Pflicht aller Mitgliedsstaaten (I-41-3) und sieht alle möglichen Waffenverwertungen vor, von humanitären bis zu kriegerischen – auch in Drittländern: „bei der Bekämpfung des Terrorismus“ (II-309-1). Der Vertrag kommt schließlich einer Elite von PolitikerInnen und LobbyistInnen entgegen, die lieber schnell, effizient und in kleinem Kreis entscheiden, als sich mit den Parlamenten und den öffentlichen Meinungen abzumühen. Denn er stärkt Gremien wie die Kommission, deren Mitglieder von keinem Souverän – keinem Volk – gewählt werden, und er gibt das letzte Wort dem Rat. Nicht einmal vor Militäreinsätzen müssen die Parlamente befragt werden. Zur Sicherheits- und Verteidigungspolitik muss das Europaparlament bloß „regelmäßig gehört“ und „auf dem Laufenden gehalten werden“ (I-41-8).

Aber was nützt mir – was nützt der großen Mehrheit der EuropäerInnen – eine Verfassung, die die militärische Aufrüstung zum Dogma macht und keine einzige soziale Verbesserung vorsieht? Was soll eine Verfassung, in der die Passagen über soziale Sicherheit und Gesundheit „auf hohem Niveau“ Fensterreden sind und die selbst klarstellt: „dies bedeutet aber keineswegs, dass solche Dienste eingerichtet werden müssen, wo sie nicht bestehen“ (Titel IV, Artikel 34, Erläuterung)?

Ich erkenne keine Vorteile, wenn die EU in parlamentarischer Hinsicht ein Zwerg bleibt. Wenn ihre VolksvertreterInnen weniger Gestaltungsrechte haben als in sämtlichen Mitgliedsländern. Ich zweifle an einer „partizipativen Demokratie“, die vorschlägt, dass eine Million BürgerInnen eine „Initiative ergreifen“ dürfen, ohne dass dergleichen die EU-Kommission zu irgend etwas verpflichtet (I-47-4). Es erscheint mir absurd, dass dieses wirtschaftsliberale, militaristische, unsoziale und undemokratische Konstrukt die europäischen Geschicke für mindestens ein halbes Jahrhundert bestimmen soll.

Aber so hat es der Präsident des EU-Konvents, der Franzose Valéry Giscard d’Estaing, prognostiziert. Er könnte Recht behalten. Denn sein Text sieht ein derart kompliziertes Änderungsverfahren vor (III-443), dass die meisten Verfassungsänderungen scheitern müssen.

Diese Zwangsjacke verdient keine demokratischen Weihen. Auch wenn die beiden ersten Kapitel – insbesondere die Grundrechtecharta in Kapitel II – zunächst verlockend aussehen. Sie enthalten Absichtserklärungen – von: „Niemand darf zur Todesstrafe verurteilt werden“, über das „Streikrecht“ bis hin zu dem „Recht auf Freiheit und Sicherheit“.

Doch was künftig in den EU-Ländern Vorrecht vor den nationalen Verfassungen haben soll, sind nicht die ersten Kapitel, sondern der Text insgesamt. Er enthält zahlreiche Bestimmungen, die die hehren Absichtserklärungen außer Kraft setzen. Für die Todesstrafe gilt als Ausnahme eine Tötung: „um einen Aufruhr oder Aufstand rechtmäßig niederzuschlagen“ (Titel I-2-3-c). Für Streiks und Tarifverhandlungen regeln „einzelstaatliche Rechtsvorschriften“, ob „grenzüberschreitende Maßnahmen in mehreren Mitgliedsstaaten parallel durchgeführt werden können“ (Titel IV-28). Und das „Recht auf Freiheit“ darf „rechtmäßig“ entzogen werden, wenn es um folgende Personengruppe geht: „psychisch Kranke, Alkohol- oder Rauschgiftsüchtige und Landstreicher“ (Titel II-6-c).

Nein. Eine solche Verfassung brauchen wir nicht. Dem französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac gebührt Lob, weil er – aus welchen Motiven auch immer – ein Referendum organisiert. In Deutschland hingegen gibt sich die Bundesregierung Mühe, die Details der Verfassung unter Verschluss zu halten, während ihre Mitglieder Schröder, Fischer und Trittin durch Frankreich touren, um Kampagne für ein „Oui“ zu machen. Zu Hause hatten sie nicht einmal den Mut, den Verfassungstext unter das Volk zu bringen.

Angesichts dieser Gemengelage kommt den FranzösInnen, und auch dem Bundestag eine verantwortungsvolle Rolle zu. Sollten sie es schaffen, sich gegen die Propagandamaschine zu stemmen, die jetzt rollt, blieben die vorhandenen Institutionen der EU in Kraft: vom Euro über das Europaparlament bis hin zu Kommission und Rat. Über den „Rest“ – die Zukunft der EU – müsste ein neues Nachdenken beginnen. Die europäische Elite allerdings wäre bei einem Scheitern dieser – ihrer – Verfassung desavouiert. Sie würde in eine Krise stürzen. Und das wäre gut so.

DOROTHEA HAHN