Repression ohne Mehrheit
: Kommentar von CHRISTIAN SEMLER

Haben sich all die Kritiker, die nach dem Erlass der Antiterrorgesetze von 2001 vor der abschüssigen Bahn in Richtung Überwachungsstaat warnten, der Übertreibung schuldig gemacht? Folgt man der selbstzufriedenen Bilanz rot-grüner Politiker, ist dieser Vorwurf berechtigt. Denn die Verfolgungsorgane, so das Argument, hätten von ihren Vollmachten vorsichtigen, gezielten Gebrauch gemacht. Aber dieser Eindruck einer polizeilichen Kultur der Zurückhaltung täuscht.

 Die folgenreichste Änderung im Verhältnis von Sicherheitsbedürfnissen und Bürgerfreiheiten betrifft den Begriff der Sicherheit selbst. Bis in die 90er-Jahre galt es als fortschrittlicher Gemeinplatz, Sicherheit in einem weiten, die ökologischen wie die sozialen Problemfelder umgreifenden und in diesem Sinn globalen Rahmen zu bestimmen. Hingegen zielt der heutige „erweiterte Sicherheitsbegriff“ auf die Globalität des internationalen Kampfs gegen den Terrorismus.

 Dieser Lesart zufolge ist der Feind überall und kann jederzeit losschlagen. Und wo es nicht mehr um die Verhütung unmittelbar bevorstehender oder die Verfolgung bereits geschehener Straftaten geht, rückt das jeweilige Vorfeld ins Zentrum der Überwachung. Wer wird zur potenziellen Zielgruppe im Vorfeld? Bis jetzt zum Beispiel die Angestellten der Bundesagentur für Arbeit, die ohne ihr Wissen in 1.544 Fällen sicherheitsüberprüft wurden. Und morgen? Ist der Täter allgegenwärtig, ist es auch der Verdacht.

 Daten möglichst vieler potenziell Verdächtiger möglichst engmaschig und ohne Zeitlimit speichern – das soll zum Idealzustand der Polizeiarbeit werden. Von kleinstkriminellen Wiederholungstätern bis zu notorischen Verletzern der Straßenverkehrsordnung reicht die Begehrlichkeit bei der Anwendung des genetischen Fingerprints. Regelmäßig wird nach Anschlägen die Angstkonjunktur genutzt und auf die Sicherheitsbedürfnisse der Bevölkerung verwiesen. Wie sieht die Balance zwischen diesen Bedürfnissen und der Geltung der Freiheitsrechte aus? Die jüngste Debatte über die Rechtmäßigkeit der Folter kann als Indiz gewertet werden. Der Vorgang zeigt, dass bislang Vorstöße, die zentrale Menschen- und Bürgerrechte angreifen, auf keine gesellschaftliche Mehrheit rechnen können. Kein Alarmismus also – wohl aber Wachsamkeit.