Ein Käfig voller Engel

Und der Himmel tat sich auf, doch es war nur das Ozonloch: Die Miniserie „Engel in Amerika“(21.40 Uhr, ARD) ist ein schwules Epos, wie es das Fernsehen noch nicht gesehen hat

von Hannah Pilarczyk

Schwule Juden, schwule Christen, schwule Mormonen, schwule Weiße, schwule Schwarze. Sie sind das auserwählte Volk in Tony Kushners Theaterstück „Engel in Amerika“, das 2003 von Mike Nichols („Die Reifeprüfung“, „Hautnah“) für den US-amerikanischen Bezahlsender HBO verfilmt wurde, mit elf Emmys und fünf Golden Globes ausgezeichnet wurde und ab heute spätabends in der ARD zu sehen ist. Doch statt ins gelobte Land führt Kushner sein Volk an die Schwelle der Erkenntnis – und die Zuschauer in ein melodramatisches Fegefeuer, wie sie es noch nicht gesehen haben.

Eine schwule Fantasie

Es ist 1985 in New York. Ronald Reagan ist wiedergewählt worden, Aids ist angesichts der Masse seiner Opfer nicht mehr zu leugnen, und gerade hat sich der Himmel aufgetan – aber es ist nur das Ozonloch. In dieses präapokalyptische Szenario setzt Kushner drei schwule Passionsgeschichten. Da ist der ultrarechte Staranwalt Roy Cohn (Al Pacino), der seine Aidsdiagnose nicht wahr haben will, weil Aids eine Schwulenkrankheit sei und er kein Schwuler – nur ein Heterosexueller, der mit Männern schläft. Cohn ist die einzige Figur, die es tatsächlich gegeben hat.

Dann ist da der strenggläubige Mormone und Cohn-Assistent Joe Pitt (Patrick Wilson), der ebenso seine Homosexualität verleugnet und doch für seine valiumsüchtige Frau Harper (Mary-Louise Parker) nur schmallippige „Partnerküsse“ übrig hat; und schließlich ist da noch der bekennende junge Schwule Prior (Justin Kirk), der an Liebe und Leben glaubt, bis bei ihm Aids diagnostiziert wird und ihn sein langjähriger Geliebter daraufhin verlässt.

„Eine schwule Fantasie über nationale Themen“ hat Autor Kushner, der auch das Drehbuch für die Fernsehserie geschrieben hat, sein Stück im Untertitel genannt. Diese nationalen Themen sind religiöser Fundamentalismus, Antikommunismus, der hegemoniale Anspruch der Reagan-Regierung, Krankheit und Tod – oder wie es der schwarze, schwule Aidskrankenpfleger Belize (Jeffrey Wright) zusammenfasst: „Große Ideen und Menschen, die sterben, davon handelt Amerika.“

Der Verfall des Körpers

Doch was ist das Schwule an diesen Themen? Da ist zunächst die Erinnerung an den Schmerz der Aidskranken, der sich jenseits der schwulen Communities kaum ins kollektive Gedächtnis an die 80er eingeschrieben hat. Diesen Schmerz zeichnet Regisseur Nichols in monumentalen Bildern mit rubenshafter Ausleuchtung des menschlichen Körpers nach. Gerade Al Pacino gelingt dabei die Darstellung des Zerfalls so physisch eindringlich, dass man sich fragt, ob er danach je wieder wird spielen können.

Was sonst noch schwul am Blick von „Engel in Amerika“ auf die ferne Reagan-Ära ist, lässt sich am besten anhand eines der vielen weiteren bombastischen Bilder beschreiben: Auf seinem einsamen Krankenbett spürt der geschwächte Prior seit langem wieder eine Erektion. Sie kündigt ihm die Ankunft eines himmlischen Boten an. Mit diesem Engel, der von Emma Thompson gespielt wird und im Übrigen acht Vaginas hat, hat Prior ekstatischen Sex in der Luft. Kurz danach wird er zum Propheten ernannt, der den Menschen von den Engeln ausrichten soll, dass Gott den Himmel verlassen hat. Und die Musik dazu schmettert fast unerträglich. Solche Fieberfantasien von Filmszenen sind Travestie und Aneignung tradierter religiöser Transzendenzerfahrungen zugleich – in ihnen entfacht „Engel in Amerika“ jene sinnstiftende Kraft, die das Theaterstück zu einem Klassiker gemacht hat und die auch jetzt, rund zwölf Jahre nach der Uraufführung, nichts eingebüßt hat.

Eine lose Dramaturgie

Jenseits der Bilder sind es aber nur die großen amerikanischen Ideen, die „Engel in Amerika“ im Inneren zusammenhalten. Dramaturgisch ist die Serie nämlich nur lose zusammengeschnürt – beispielsweise durch Doppelbesetzungen wie Meryl Streep als alternde Mormonin und als Geist von Ethel Rosenberg, die in den 50er-Jahren wegen kommunistischer Umtriebe von Roy Cohn auf den elektrischen Stuhl gebracht worden war.

Vielleicht ist es deshalb sogar von Vorteil, dass die ARD jeweils zwei der insgesamt sechs Folgen hintereinander zeigt. Außerdem wird so auch die Achse deutlicher, die die Serie teilt. In den ersten drei Folgen – zusammengefasst unter dem Titel „Millennium Approaches“ – werden Engel noch als Boten des Himmels dargestellt. Doch der Himmel ist nur das Reich der Toten, das Gott längst verlassen hat. Im zweiten, hoffnungsvollen Teil („Perestroika“) werden die Engel als steinerne Statuen auf ihre Sockel gebannt. Der Schmerz bleibt, doch das Leben auch. So greift „Engel in Amerika“ zum Schluss noch ein weiteres großes amerikanisches Thema auf: den unbedingten Glauben an den Fortschritt.

Teil 1 und 2: heute, 21.40 Uhr. Teil 3 und 4: Sonntag, 23.20 Uhr. Teil 5 und 6: Montag, 22.45 Uhr