Der lange Weg zum nächsten Öcalan-Prozess

Die meisten Türken sind empört, die Regierung ist unglücklich. Sie sucht ihr Heil in einer Verzögerungstaktik

Proeuropäer klagen, das Urteil nutze türkischen Nationalisten und ändere in der Sache nichts

ISTANBUL taz ■ „Wir können den Prozess gegen den Terroristenführer Abdullah Öcalan hundertmal wiederholen, am Ende wird doch immer dasselbe Ergebnis stehen.“ Bereits einen Tag vor dem Urteil des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs, das die Wiederaufnahme des Prozesses gegen den türkischen Staatsfeind Nr. 1 empfiehlt, versuchte sich Außenminister Abdullah Gül mit einer Schadensbegrenzung.

Bisher hat die Abwiegelung jedoch nicht viel genutzt. Sowohl die Medien wie der sprichwörtliche Mann auf der Straße sind empört. „Europa spielt mit uns“, titelte das Massenblatt Aksam und selbst die proeuropäischen Kommentatoren sind über das Urteil höchst unglücklich, weil es vor allen den Nationalisten nutzt und in der Sache nichts ändern wird.

Denn die von Straßburg gerügten Menschenrechtsverstöße, so die Argumente der Europafreunde, sind ja im Zuge der Reformen der letzten Jahre längst beseitigt worden. Die Todesstrafe, unter deren Drohung Öcalan während seines Prozesses zu leiden hatte, ist abgeschafft. Die Staatssicherheitsgerichte sind aufgelöst worden, und die Verteidigerrechte wurden gestärkt. Jeder Untersuchungsgefangene hat jetzt, anders als Öcalan vor sechs Jahren, Anspruch auf sofortige Hilfe durch einen Anwalt. Da Öcalan gar nicht bestreitet, was, wie Außenminister Gül betont, „die ganze Welt weiß“, nämlich einen gewaltsamen Kampf für einen unabhängigen kurdischen Staat geführt zu haben, wird er auch in einem neuen Verfahren vor einem normalen Strafgericht zu lebenslänglicher Haft verurteilt werden. Warum also das Ganze?

Für die Regierung von Ministerpräsident Tayyip Erdogan kommt der Spruch aus Straßburg zu einem denkbar ungünstigen Zeitpunkt. Nach der EU-Euphorie im letzten Jahr herrscht im Moment eher Katerstimmung. Die Nationalisten beklagen die ungerechte Behandlung der Türken auf Zypern und sehen die Türkei in der Armenienfrage zu Unrecht an den Pranger gestellt. Und gerade jetzt, wo die kurdische PKK, angeblich von Öcalan selbst per Kassiber dazu angewiesen, wieder Bomben legt und Polizeistationen angreift, ausgerechnet jetzt verlangt Europa auch noch, den Prozess gegen Öcalan zu wiederholen.

Die Regierung hat zwar angekündigt, man werde das Urteil aus Straßburg sehr ernst nehmen, trotzdem wird man wohl zunächst versuchen, Zeit zu gewinnen. „Wir warten nun auf die schriftliche Begründung“, sagte Justizminister Cemil Cicek gestern. Noch gibt es eine schwache Hoffnung, dass der Ministerrat des Europarates, dem die Umsetzung der Urteile des Gerichts obliegt, vielleicht auf eine Prozesswiederholung verzichtet. Wird die Türkei aber doch dazu aufgefordert, folgt die Regierung dem wohl. Zunächst muss dann einmal ein Gesetz geändert werden, mit dem man genau versucht hatte, Öcalan von Amnestien oder Einsprüchen internationaler Gerichte auszunehmen. Dann müssen die Anwälte Öcalans auf Wiederaufnahme des Verfahrens klagen. Die Regierung Erdogan hofft deshalb, dass es bis zu einer tatsächlichen Neuverhandlung noch gut ein Jahr dauern kann. Bis dahin ist die Erregung um Öcalan wohl so weit abgeflaut, dass die Neuauflage des Prozesses ohne große Erschütterungen vonstatten geht.

„Vertraut dem Staat“, forderte Justizminister Cicek die Bevölkerung gestern auf. Es gebe keinen Grund zur Aufregung. Straßburg habe ja nicht den Inhalt des damaligen Urteils, sondern nur Verfahrensfragen gerügt. JÜRGEN GOTTSCHLICH