Stalin in Zehlendorf

Wohin mit den vielen abwegigen Büchern, die sich mit den Jahren angesammelt haben?

Habe ich dieses scheußliche Handarbeitsbuch einst im Suff beim Würfeln gewonnen?

Fast jeder hat seine menschliche Seite, eine kleine, sympathische Schwäche, die ihn erst liebenswert macht. Frauen können nicht rückwärts einparken, Männer können nicht logisch denken. André Bergdölmo, der sein Unwesen bei den Rumpelfüßlern von Borussia Dortmund treibt, kann nicht Fußball spielen. Ich kann keine Bücher wegwerfen.

Bücher kaufen kann ich hingegen gut. Ob planvoll Platon und Platonow oder auch wahllos Sjöwall und Wahlöö, immer rein damit in die gute Stube, bis jede Wand, jede Nische, jedes Brett voll gepflastert ist mit den Mitbewohnern, die so viele schöne Stunden bereiten. Der Moment der Wahrheit, der Kater nach 25 Jahren Kaufrausch kommt mit dem Umzug. Selbst wirklich gute Freunde brechen den Kontakt ab, wenn man ihnen beiläufig mitteilt: „Ach, und die 300 Bücherkisten sind ein Klacks, tragen sich quasi von alleine, sind ja alle ganz leicht.“

Also muss aussortiert, um nicht zu sagen, ausgemistet werden. Und dann ein Digitalfoto – und ab damit zu eBay. Aber selbst dort gibt es eine Schmerzgrenze. Wer will schon „Das neue Handarbeitsbuch – Schöne Sachen selbermachen“ ersteigern? Es hat zwar über 300 farbige Abbildungen und enthält zwei Abplättbögen (was immer das auch ist), aber es stammt aus dem Jahr 1977. Und die über 300 farbigen Abbildungen zeigen derart erlesene Scheußlichkeiten, dass man geneigt ist, häkelnde oder strickende Verwandte als Asylgrund anzuerkennen.

Wieso befindet sich dieses Buch in meinem Besitz? Habe ich es im Suff beim Würfeln gewonnen? Wie Band 1 bis 6 der sechzehnbändigen Werkausgabe von Josef Stalin? Ich weiß es nicht, aber nach und nach erweisen sich diese und andere Schätze als vollkommen unverkäuflich und müssen doch aus meinem Leben verschwinden.

Es mag Tierquälerei sein, Hunde, Katzen und Taranteln im Sommer an Autobahnraststätten auszusetzen, aber Bücher brauchen kein Wasser und kein Frolic. Ob sie zärtlich über den Buchrücken gestreichelt werden wollen? Es könnte sein. Aber falsche Sentimentalitäten sind angesichts des Bands „Im Reich der Kakteen – Ihre Auswahl, Anzucht und Pflege“ und weiterem, geschätzt 80 Kilogramm, Altpapier, broschiert und in Fadenheftung, fehl am Platz. Politische Literatur der merkwürdigsten Provenienz, Kochbücher, die nie benutzt wurden, aber immer mit umzogen. Miserable Krimis, Bildbände, Humoranthologien, diverse Auflagen des Bürgerlichen Gesetzbuchs – alles muss raus. Alles wird seinen Platz finden. Und wenn es auch nur das Fundbüro der Berliner Verkehrsbetriebe ist.

Im Lauf der Zeit merke ich, wie mich diese Freisetzungsaktionen beflügeln, wie ich die letzte gemeinsame Reise mit dem Druckerzeugnis als mein kleines Ritual inszeniere, hintergründig und symbolisch. Christus kam nur bis Eboli, das Kakteenbuch kommt in den Süden Berlins nach Steglitz. Listig wähle ich den Bus, der am Botanischen Garten vorbeifährt. Dort sitzen sie sicherlich rudelweise darin, die Pflanzenliebhaber. Florophil im Herzen, Chlorophyll im Sinn werden sie die kleine Trophäe nach Hause tragen und mammillaria bocasana und seticereus icosagonus anbauen.

Oder in der U6 nach Norden Richtung Tegel. Nördlich vom Kurt-Schumacher-Platz wird die U-Bahn leer. Jetzt ist der Moment gekommen, dem „Neuen Handarbeitsbuch“ Lebewohl zu sagen. Ein letztes Mal betrachte ich seine über 300 farbigen Abbildungen, dann lege ich es diskret zur Seite. Die U-Bahn hält. Zielstrebig, aber nicht zu auffällig gehe ich zum Ausgang, und der bibliophile Schatz fährt weiter. Möge ihm ein – heißt das bei Büchern auch so? – neues, nettes Frauchen beschieden sein. Wer weiß, vielleicht prügeln sich ja auch zwei Tegelerinnen um diese Trouvaille. Wer schon einmal in Tegel unterwegs war, weiß, dass hier selbst altbackene Handarbeiten die Modelage deutlich verbessern könnten. Nur in Tegel gelten orangefarbene Nickipullover mit hellblauem V-Ausschnitt als hochmodern.

Stalin kommt nach Zehlendorf. Ein Ruck wird durch diese größte der bourgeoisen Oasen Berlins gehen, wenn Stalins Werkband 5 auf der letzten Sitzbank im Bus von einem Achtklässler entdeckt werden wird. Band 5 ist mein absoluter Lieblingsband, wobei ich ja Band 7 bis 16 gar nicht kenne. Band 5 enthält das „Begrüßungsschreiben an den ersten Kongreß der Frauen der Bergvölker“ vom 17. Juni 1921 (S. 52), das Lennon/McCartney zu „Back in the U.S.S.R.“ inspiriert haben soll. Vielleicht schreibt der Achtklässler aus dem Bus ja später einmal Welthits basierend auf „Genosse Lenin in Erholung“ (S. 118).

Die „Fußball-Funktionsgymnastik“, ein älteres Taschenbuch mit zahlreichen Anstreichungen und schweißfleckigem Einband, hebe ich mir für den nächsten Besuch in Lüdenscheid auf. Vielleicht findet ja der Dortmunder André Bergdölmo das Buch und nimmt es zum Zeichen. Fußballer sind sehr abergläubisch. Und mittlerweile können auch alle lesen. ROB ALEF