„Ich wünsche mir eine Aufbruchstimmung“

REFORM Inge Hirschmann vom Grundschulverband kritisiert den Stillstand beim Thema Inklusion

INTERVIEW MALENE GÜRGEN

taz: Frau Hirschmann, die Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) will das Thema Inklusion „neu aufrollen“. Wie finden Sie das?

Inge Hirschmann: Ich bin da zwiegespalten. Ich habe sehr dafür plädiert, das bisherige Konzept nicht in dieser Form zu verabschieden, sondern es besonders in Hinblick auf die Finanzierung zu überarbeiten. Nun ist Frau Scheeres aber bereits die berühmten 100 Tage im Amt und hat es offensichtlich nicht geschafft, eine entsprechende Finanzierung zu sichern – das ist bedauerlich. Ein Dilemma: Umsetzen ohne Ressourcen ist schlecht, aber die Reform auf die lange Bank schieben ist es auch.

Welche Erwartungen haben Sie denn jetzt an den Senat?

Ich wünsche mir eine Aufbruchstimmung. Dabei geht es auch um die Gesamtsituation der Schulen, denn da gibt es einen großen Nachholbedarf. Besonders die Grundschulen sind chronisch unterfinanziert, es fehlt ihnen an Räumen wie auch an Personal. Dadurch sind die Schulen natürlich entsprechend schlecht aufgestellt für die Aufgabe, behinderte Kinder aufzunehmen. Wenn sich das nicht ändert, wird jede Reform nur die Schieflage fortschreiben. Das sage auch ich als klare Verfechterin der Inklusion.

An der Kreuzberger Zille-Grundschule, die Sie leiten, wird das Prinzip der Inklusion bereits seit über 20 Jahren umgesetzt. Welche Anforderungen stellt das an eine Schule?

Wir haben das Glück, hier mittlerweile sehr viel Erfahrung zu haben. Da ist ein großes kollektives Wissen vorhanden, das andere Schulen sich erst mühsam aufbauen müssen. Da brauchen wir viel mehr Unterstützung und Fortbildungsangebote. Inhaltlich liegen die größten Herausforderungen in der Integration von Kindern mit starken Verhaltensauffälligkeiten und Aggressionen. Auch sinnesbehinderte Kinder stellen noch mal besondere Anforderungen, zum Beispiel die Kompetenz Gebärdensprache.

Welche Vorbehalte begegnen Ihnen beim Thema Inklusion?

Ich erlebe kaum Vorbehalte, sondern einen großen Bedarf an inklusivem Unterricht. Natürlich gibt es auch Verfechter der Sonderschulen, die fürchten, dass an Regelschulen die Schonräume für behinderte SchülerInnen wegfallen. Ich glaube aber, wenn man behinderte Kinder mit dem nötigen Selbstbewusstsein ausstattet, klappt auch der Umgang mit nichtbehinderten Kindern.

Und wie wird es jetzt weitergehen?

Aus meiner Sicht lautet Frau Scheeres’ Botschaft ganz klar Entschleunigung. Sie will sich noch mal in Ruhe mit allen Beteiligten hinsetzen. Das klingt erst mal schön, aber bedeutet auch viel Zeitverlust und Unsicherheit: Keiner weiß gerade, wann denn jetzt mal was passiert. Ich finde, wir sind gerade an einem Punkt, an dem sich Frau Scheeres eigentlich nur noch mit dem Finanzsenator hinsetzen muss – den Rest kriegen wir dann schon hin.