Ungeschick ausgestellt

Cannes Cannes V: Ein Blow Job genügt nicht. Wie der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas seinen Ruf als Enfant terrible verspielt

„Die Leute haben sich fast geprügelt, um in deinen Film zu kommen“, sagt einer der Journalisten während der Pressekonferenz, „bei George Lucas haben sie das nicht getan. Freust du dich darüber, Carlos?“ Carlos Reygadas freut sich, klar – zumal er ein erklärter Gegner jenes Unterhaltungskinos ist, um dessen technische Vervollkommnung George Lucas sich bemüht. 33 Jahre alt ist der Regisseur aus Mexiko, vor drei Jahren lief sein Debütfilm „Japón“. In diesem Jahr nimmt er mit „Batalla en el cielo“ („Schlacht am Himmel“) am Wettbwerb teil.

Noch bevor das Festival begann, war ihm der Ruf eines Wunderkindes vorausgeeilt. Die Tageszeitung Libération widmete ihm die Hälfte ihrer Titelseite und eine mehrseitige Textstrecke. Sein Regieassistent Amat Escalante erhielt Gelegenheit, einen eigenen Film, „Sangre“ („Blut“), in der Reihe Un certain regard vorzustellen. Der hat viel mit „Batalla en el cielo“ gemein: das visuelle Gestaltungsvermögen, die drastischen Sexszenen, die Laiendarsteller, die den gängigen Schönheitsidealen nicht genügen, und leider auch einen bestürzenden Mangel an Empathie für die Figuren. So hat „Sangre“ gewissermaßen das Terrain für Reygadas’ Film vorbereitet. Der Presse wurde „Batalla en el cielo“ in der kleinen Salle Buñuel gezeigt, offenbar einkalkulierend, dass nicht jeder Journalist Zugang bekam. „They are making so much fuzz about this film“, schimpfte eine Frau, „it’s gonna win a price.“

Sollte das Festival wirklich versucht haben, mit knappem Angebot die Nachfrage zu erhöhen, dann ist die Rechnung nicht aufgegangen. Dafür, dass Reygadas die Rolle des Enfant terrible einnehmen könnte, hat es nicht gereicht, so echt die von ihm gefilmten Blow Jobs auch aussehen. Dabei gehe es, so der Regisseur, um, „ein Mysterium. Was passiert, wenn die Figuren Sex haben, wie kommunizieren sie miteinander?“ Genau dieses Mysterium bleibt auf der Strecke, wenn sich die junge Ana (Anapola Mushkadiz) an Marcos (Marcos Herandez) zu schaffen macht. Es stellt sich auch nicht ein, wenn Marcos mit seiner Ehefrau schläft und die Kamera von den Körpern zu einem Jesusbild an der Wand herauffährt.

Marcos ist dick, arbeitet als Anas Chauffeur, ist mit einer nicht minder dicken Frau verheiratet (Berta Ruiz) und sitzt gerade ziemlich tief im Dreck. Er hat ein Kind entführt, das gestorben ist. Er sucht Erlösung, indem er sich einer Prozession anschließt. Auf Knien rutscht er der Jungfrau von Guadalupe entgegen. Gefilmt ist das auf eine bisweilen sehr aufregende Weise. Die Einstellungen sind zunächst oft starr, dann löst sich die Statik in einer Kamerabewegung auf, dem Kameramann Diego Martínez Vignatti gefallen die extravaganten Fahrten und Schwenks. Hinzu kommt eine interessante Arbeit an der Tonspur; manche Geräusche werden hervorgehoben: ein Weckerklingeln oder das Klacken von Absätzen. Andere verschluckt die Tonspur: etwa wenn am Ende die Glocken läuten, ohne dass man das Geläut hörte. In diesen Momente stellt der Film seinen Willen, Kunst zu sein, allzu sehr aus.

Reygadas’ wirkliches Problem aber ist, wie er mit seinen Laiendarstellern umgeht. Einmal unternimmt Marcos mit seiner Frau einen Ausflug aufs Land. Reygadas sperrt die beiden in einer halbnahen Einstellung wie in einem Käfig ein. Sie bereden ihre größte Sorge: das tote Kind. Die Laiendarsteller wirken, als lägen ihnen die Sätze wie Steine im Mund. Reygadas behauptet: „Ich mag die Natürlichkeit der Laiendarsteller, ich möchte nicht, dass die Schauspieltechnik dazwischenkommt.“ Doch hier wird aus der Natürlichkeit Unbeholfenheit, und man wird den Eindruck nicht los, dass die massigen, ungeschickten Körper ausgestellt werden. Amat Escalante, der Regieassistent, hat über seinen Film gesagt: „Ich filme Menschen, als wären sie Tiere.“ Reygadas würde so weit vermutlich nicht gehen. Viel fehlt aber nicht.

CRISTINA NORD