Serdat hat die Nase voll, alles Bullenlogik

JUGENDTHEATER Kinder, Liebe, Not, Gewalt: Das Theater Strahl spielt „Weißbrotmusik“ von der Dramatikerin Marianna Salzmann und diskutiert mit Schulklassen

„Gehört das zum Stück?“, fragen einige. „Nazi!“, ruft ein Mädchen aus dem Publikum

VON KRISTINA RATH

Dieses Penisgesicht! Serdat ist sauer. Nicht genug, dass der Scheißbulle ihn gefilzt hat. Aber klar, so einer wie er, der dealt natürlich. Bullenlogik eben. Blöd nur, dass er seinen Personalausweis verloren hat und deshalb gleich mal pauschal verdächtigt wird, illegal hier zu sein. Serdat ist in Deutschland geboren und hat die Nase voll davon, dass alle ihn gleich in eine Schublade stecken. Bei seinem Freund Aron kotzt er sich aus über vorgefertigte Meinungen, dieses „du bist ja so und so“ – über die ganze Weißbrotmusik, wie er es nennt.

„Weißbrotmusik“, so heißt das erste Stück der russischstämmigen Autorin Marianna Salzmann, die an der UdK Szenisches Schreiben studiert. Unter der Regie von Nick Hartnagel, Regie-Student an der Ernst-Busch-Schule, wurde „Weißbrotmusik“ 2010 in der Studiobühne „bat“ aufgeführt. Nun hat das Jugendtheater Strahl die Inszenierung übernommen.

Erste Vorstellung. Einige Mittelstufenklassen füllen den Raum in der Weißen Rose in Schöneberg. Spot an: Christine Smuda beginnt, in ihrer Rolle als Halbtürkin Nurit, ihren ersten Monolog. Plötzlich steht ein älterer Mann von seinem Platz in der ersten Reihe auf. „Das ist mir hier alles zu aggressiv“, bemängelt er und schiebt islamophobe Sprechblasen à la Sarrazin nach. Verwirrung im Publikum. „Gehört das zum Stück?“, fragen einige. „Nazi!“, ruft ein Mädchen. Smuda bricht ab, schaut hilfesuchend zu Oliver Kahrs, dem Dramaturgen. „Wir haben nach der Vorstellung ein Publikumsgespräch“, beruhigt dieser den Grauhaarigen. Schließlich setzt sich der Alte.

Smuda nimmt ihren Monolog wieder auf. Nurit ist schwanger von Serdat und bis über beide Ohren verliebt. Ihre deutsche Mutter versucht sie zu bremsen: „Männer hauen früher oder später sowieso ab“, belehrt sie ihre Tochter, „aber ich bin ja da.“ Ein zweifelhafter Trost.

In locker aufeinanderfolgenden, oft humorvollen Szenen präsentieren Serdat, Nurit und Aron ihren Alltag. Dass es den drei Jugendlichen trotz aller Coolness an Orientierung fehlt, verdeutlicht die Autorin am Verhältnis zu den Familien. Alle drei Mütter werden von derselben Schauspielerin dargestellt, ein paar kleine Änderungen an Frisur und Gestik genügen dafür. Doch die Fragen sind dieselben: Wohin gehst du? Wer sind deine Freunde? Warum musst du dich denn mit solchen Leuten treffen? Aron ist Jude, Serdat Moslem, Nurit Christin. Mit ihrem religiös-kulturellen Hintergrund hat ihr Gefühl der Fremdheit nichts zu tun.

Nurits Mutter behält recht; Serdat meldet sich nicht. Nurit sucht Trost bei Aron. Als Serdat davon erfährt, kommt es zum erbitterten Streit zwischen den Freunden. Der Mann aus der ersten Reihe geht dazwischen. Die Aggression der Jungen richtet sich nun gegen ihn. Er versucht zu fliehen, sie verfolgen ihn. Stoßen ihn zu Boden, treten auf ihn ein. Sein Gesicht ist blutüberströmt. Die beiden hauen ab. Zurück bleiben blutige Handabdrücke auf dem weißen Bühnenboden.

Am Ende steht ein Monolog Nurits mit Babybauch: Die Berichterstattung in den Medien hat sich auf Serdat konzentriert. Auch im Gerichtsverfahren wurde allein er verurteilt, Aron aber freigesprochen. Islamophobie? Positiver Antisemitismus? Die Christen sprächen immer von Vergebung, sagt Nurit, aber das seien leere Worte. Faltet ein Handtuch zum Dreieck, bindet es um den Kopf und kündigt an, ihre Tochter werde einen türkischen Vornamen bekommen. Licht aus.

Es gibt Applaus, aber die lauten Bravorufe kommen von den Mitarbeitern des Theaters. Oliver Kahrs betritt die Bühne. Niemand spielt mit dem Handy oder fordert eine Raucherpause. Am stärksten beeindruckt zeigen sich die Jugendlichen von dem Mann aus der ersten Reihe. Viele hielten ihn bis zum Schluss für einen Zuschauer. „Wer von Euch hatte den Impuls, ihm zu helfen?“, fragt Kahrs. Erhobene Hände, betretenes Schweigen: Eingeschritten ist niemand. Aber war der Alte nicht irgendwie unsympathisch? Und kann man die Wut der beiden Freunde nicht auch verstehen?

Für „Weißbrotmusik“ wurde Salzmann 2009 mit dem Wiener Wortstaetten Preis ausgezeichnet. Sie macht es den Zuschauern nicht leicht, für eine Seite Partei zu ergreifen. Das ist gut und richtig, gerade im Jugendtheater. Denn auch da sollte man die Teenagern nicht mit Inszenierungen unterfordern, die bloß den moralischen Zeigefinger heben und alle Antworten kennen.

■ „Weißbrotmusik“. Nächste Vorstellung im Theater Strahl am 17./18./19. April um 19.30 Uhr