Auf dem Weg

SELBSTREFLEXION Im „Land der roten Steine“: Walter Kappacher schickt seinen alternden Helden nach Utah

Walter Kappacher ist ein zurückhaltender Erzähler. Nur so ist es möglich, sich der Erhabenheit und dem Pathos der Natur auszusetzen

VON CHRISTOPH SCHRÖDER

Ab einem gewissen Zeitpunkt ist die Existenz nur noch ein bewusstes Zugehen auf das Nichtmehrdasein. Gleichzeitig aber gibt es den Impuls, dem eigenen und zwangsläufigen Verschwinden zu entfliehen. Eine harte Dichotomie, die unaufgelöst bleiben muss. Die Flucht also. So abgegriffen ist das Benn’sche „Ach, vergeblich das Fahren“ und so erschütternd zugleich. „Früher“, so heißt es in Walter Kappachers neuem Roman, „war das, was die Bauern von ihren Gehöften auf den Berghängen aus und was die Bewohner von Gastein hang- und talabwärts sahen, die ganze Welt. Nur wenige haben sie je verlassen.“ Und: „Ob sie weniger erlebt haben als wir heutzutage? Wahrscheinlich nicht.“ Und doch macht sich Michael Wessely auf den Weg, angetrieben von einer namenlosen Sehnsucht.

Seine Lebenssituation ist verfahren: Die Frau, mit der er gemeinsam eine Tochter hat, ist gestorben, seine Mutter ebenso, die Tochter lebt in Kanada; Wessely ist allein mit dem dahinsiechenden Vater in dem riesigen Haus zurückgeblieben, das einst ein Hotel gewesen ist und das Wessely nicht übernehmen wollte. Stattdessen ist er Arzt geworden. Seine Praxis hat er nun aufgegeben. „Land der roten Steine“ ist ein zutiefst österreichisches Buch, in dem die absterbende und abgestorbene Natur mit den Bewusstseinszuständen seiner Figuren wenn nicht korrespondiert, so doch kommuniziert.

Wie ein Triptychon ist der Roman gebaut; die beiden kürzeren Seitenteile, in der dritten Person erzählt, entwerfen ein distanziertes und ernüchtertes Bild von Wesselys Dasein in Bad Gastein; im längeren Mittelteil berichtet Wessely aus der Ich-Perspektive von seiner Reise in das Land of Standing Rocks, in die Einsamkeit von Utah, in eine Landschaft von spröder Schönheit, genannt „The Maze“, der unzugänglichste Teil des Canyonlands-Nationalparks.

Mit seinem schweigsamen Führer Everett, der dem Stamm der Navajos angehört, dringt Wessely auf ein Terrain vor, in dem die Zeit in der Hitze zu zerfließen scheint und das Bewusstsein von den Akkorden der Wasseraufnahme getaktet ist. Und in dem gleichzeitig eine luzide Form der (Selbst-)Reflexion möglich ist, die Wessely wenn nicht näher zu sich, dann doch näher an einen Zustand von Erkenntnis bringt. Walter Kappacher, Überraschungs-Büchnerpreisträger des Jahres 2009, ist ein äußerst zurückhaltender Erzähler. Er pflegt eine Sprache der Dezenz, einen Stil, der sich als solcher verhüllt. Nur so ist es möglich, sich und seinen Protagonisten der Erhabenheit und dem Pathos der Natur auszusetzen, ohne ihnen zu verfallen. „Land der roten Steine“ setzt dem mehrfach beschworenen Rasen der Welt explizit die Langsamkeit, ja den Stillstand entgegen. Und, nicht zu vergessen, die Ewigkeit, die Religion, die Literatur. Das sind große Worte. Die Kappacher’sche Kunst besteht darin, dass all das geradezu selbstverständlich da ist. Von Seneca (von dem der Name des zweiten Kapitels, „De vita beata“, geborgt ist) über Meister Eckhart, Georg Trakl bis hin zu Edward Abbey, der als Umweltschützer auch vor Gewalt nicht zurückschreckte (sein Roman „The Monkey Wrench Gang“ erschien 2010 in einer Neuübersetzung auf Deutsch) reicht der Referenzrahmen, den Kappacher spannt.

Als Wessely zurück nach Gastein kommt, ist der Vater gestorben und auch sein bester Freund Hans. Übrig geblieben sind die Schwester, die als Äbtissin in einem nahe gelegenen Kloster auf ihre Weise ins Leben und von den Menschen weg gefunden hat, das große Haus und die Leere. „Sein Leben“, so resümiert Wessely, „war nicht verfehlt gewesen, aber wenn er den kulturellen Reichtum bedachte, den einzelne Menschen im Verlauf der Menschheitsgeschichte geschaffen hatten, und wie wenig davon er in sein Leben wirklich aufgenommen hatte …“

Ein offener Satz, ein offenes Ende. Mit einem Schimmer von Hoffnung auf Linderung der Einsamkeit, möglicherweise jedenfalls. Kappacher hält alles in der Schwebe. Und für Wessely halten, um noch einmal mit Benn zu sprechen, die Götter die Waage eine zögernde Stunde an.

Walter Kappacher: „Land der roten Steine“. Hanser Verlag, München 2012, 158 Seiten, 17,90 Euro