Hoher Preis für billiges Angebot

Das riesige Land saugt Investitionen, Rohstoffe und Marktanteile wie ein Staubsauger auf. Leidtragende sind vor allen die armen Länder des Südens

AUS PEKING GEORG BLUME

Ist China nun Modell oder Bedrohung für den Süden? Die Debatte ist so alt wie alle Versuche postkolonialer Entwicklungspolitik. „Ein bisschen Mao“ müsse schon sein, ließ vor Jahren der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen verlauten – nur um damit die These, für die er unter anderem den Preis erhielt, dass nämlich das freiheitliche indische Entwicklungsmodell dem rigiden chinesischen überlegen sei, selbst wieder in Frage zu stellen.

Heute ist die Debatte konkreter. Im Pekinger Himmelstempel, wo die Kaiser früher den Himmel um eine gute Ernte baten, hielt Chinas Partei- und Staatschef Hu Jintao gestern eine Bittrede, wie sie in die Zeiten der Globalisierung passt: Vor 800 Gästen, darunter 300 Chefmanager großer internationaler Konzerne, die von dem amerikanischen Wirtschaftsmagazin Fortune zusammengetrommelt wurden. Die gute Ernte, um die Hu bat, sind die Auslandsinvestitionen jener Firmen. Schon seit 2002 bezieht China jedes Jahr über 50 Milliarden Dollar Direktinvestitionen aus dem Ausland – und liegt damit weltweit vor den USA an der Spitze. Eine Zahl, die Chinas derzeit einzigartige Rolle im Globalisierungsprozess fixiert: Als Supergewinner einer Entwicklung, bei der fast alle anderen verlieren.

Allein im vergangenen Jahr bezog China zwölfmal so viel Direktinvestitionen wie Indien. Das riesige Land, das nach Pro-Kopf-Einkommen immer noch zu den armen Nationen zählt, saugt Investitionen, Rohstoffe und Marktanteile wie ein Staubsauger auf – Leidtragende sind vor allem die Länder des Südens.

„Die Rohstoffabhängigkeit wechselt vom Westen nach China“, analysiert Neva Makgetla, Leiterin der Politischen Abteilung des südafrikanischen Gewerkschaftsdachverbands Cosatu. Makgetla sieht viele Länder des Südens damit in die alte Abhängigkeit von Rohstoffexporten getrieben, nur exportiert man heute nach China statt nach Europa oder Nordamerika. Gleichzeitig würden Länder wie Südafrika immer mehr industriell gefertigte Güter aus China importieren. So beginne der alte Teufelskreis der Unterentwicklung von neuem.

Eine nicht weniger scharfe Klage führt Wirtschaftsprofessor Enrique Dussel von der University of Mexico: „Die China-Drohung ist für Lateinamerika äußerst substanziell. Für die Länder des Nordens bringt sie Produktivitätsgewinne, für die Länder des Südens Arbeitslosigkeit.“ Dussel spricht von 600.000 Arbeitsplätzen, die allein Mexiko in den letzten zwei Jahren in der Textilindustrie an China verloren habe. Auch sei die gesamte mexikanische Spielzeugindustrie aufgrund der chinesischen Konkurrenz vom Erdboden verschwunden. Ein Grund dafür seien die höheren Löhne in Mexiko. Doch gehe es auch um die schnellen Produktivitätsgewinne in China. „Wir erleben eine sehr direkte, blutige Konkurrenz mit China“, so Dussel.

In Malaysia spricht der dortige Generalsekretär des Gewerkschaftsverbandes MTUC, Govindasamy Rajasekaran, zwar noch nicht von Arbeitsplatzverlusten, wohl aber vom Lohnverfall aufgrund der China-Drohung. „Arbeitgeber und Regierung verbreiten die Botschaft, dass alle begraben werden, die sich nicht auf die chinesischen Herausforderung vorbereiten“, sagt Rajasekaran und folgert: „Wir müssen die Globalisierung überdenken.“

Doch genau daran hat China das Interesse verloren. Zwar reiste KP-Chef Hu erst Ende April pflichtbewusst zu einer Dritte-Welt-Konferenz nach Indonesien, wo viel von strategischer Partnerschaft und politischer Solidarität zwischen Asien und Afrika die Rede war. Doch wenn es darauf ankommt, steht Peking heute auf der Seite der reichen Länder. Als Washington kürzlich den unter Dritte-Welt-Ländern besonders umstrittenen Paul Wolfowitz zum neuen Weltbank-Chef küren wollte, kam von der KP sofort grünes Licht. Im Gegenzug verlangte China, Saudi-Arabien als Nummer sechs in der Hierarchie des Internationalen Währungsfonds ablösen zu können und bot entsprechend höhere Mitgliedszahlungen an – ein weiteres Zeichen für das neue Pekinger Interesse am weltwirtschaftlichen Status quo.

Insofern darf auch nicht mehr erstaunen, dass sich die KP zunehmend für die Regeln der Welthandelsorganisation (WTO) begeistern lässt. Hier kann es Peking sowohl mit dem Süden als auch mit dem Norden aufnehmen – das zeigt der neue weltweite Streit um die Textilquoten. Die wurden nach einer internationalen Übereinkunft von 1995 bekanntlich in diesem Januar weltweit gestrichen. Die Folge: Chinas Textilexporte explodierten um verrückte Werte (342 Prozent mehr T-Shirts für die EU seit Jahresbeginn),

In Ländern wie Mexiko, Vietnam und Kambodscha brachen große Teile der Textilbranche zusammen, während die Textillobbys des Westen in Brüssel und Washington neuen Widerstand formierten und nun auf Wiedereinführung der Quoten drängen, von denen Peking partout nichts mehr wissen will.

Doch Chinas derzeit globale Dominanz der Textilindustrie ist erst der Anfang. „Auf die Textilbranche wird die Elektronik folgen“, prophezeit Wirtschaftsprofessor Zha Daojiang. Klar ist, dass China längst nicht mehr nur mit niedrigen Löhnen konkurriert – im Textilgeschäft sind die Löhne in anderen Ländern bereits sehr viel niedriger –, sondern mit zunehmender Produktivität und technologisch hochwertigeren Produkten. Schon stellt China 50 Prozent aller Kameras der Welt, 25 Prozent aller Waschmaschinen und 20 Prozent aller Kühlschränke her. Das aber lastet auf den Industrialisierungschancen anderer Länder des Südens.

Die aber dürfen gerade heute nicht vergessen, wo China ihnen Modell steht: „Ein bisschen Mao“ – damit meinte der Inder Sen nicht zuletzt den Willen des Republikgründers Mao Tse-tung, sich von keinem die Entwicklung vorschreiben zu lassen. Bis vor wenigen Jahren bestanden auch Chinas Exporte noch zu 60 Prozent aus Rohstoffen.