Anarchische Liebe auf den zweiten Blick

AVANTGARDE Das Festival MaerzMusik feiert 2012 den 100. Geburtstag des US-Komponisten John Cage. Den Auftakt bildeten am Samstag seine „Song Books“ in der neuen Fassung von Cages früherer Mitstreiterin, der Sängerin Joan La Barbara

Dass Joan La Barbara, die zugleich dirigierte, ihre Stimme in den Ensembleklang integrierte, statt als Solistin zu dominieren, war eine angenehme Überraschung

VON TIM CASPAR BOEHME

Nicht jede künstlerische Zusammenarbeit beginnt als Liebe auf den ersten Blick. Bei ihrer ersten Begegnung mit dem Komponisten John Cage in einem Konzert im Jahr 1972, erinnert sich die Sängerin Joan La Barbara, war diese von dessen Musik so verstört, dass sie ihn hinterher zur Rede stellte und fragte, warum er eigentlich noch mehr Chaos in die Welt bringen müsse – sprach’s und drehte ab. Doch statt beleidigt zu sein, lief Cage hinter ihr her, tippte der Kritikerin auf die Schulter und gab zur Antwort, dass ihr die Welt nach dieser Musik vielleicht weniger chaotisch vorkommen könnte.

Aus diesem zunächst wenig harmonischen Zusammentreffen sollte eine zwanzig Jahre dauernde gemeinsame Kooperation entstehen – bis zum Tod von Cage 1992. Im September wäre der Avantgardist 100 Jahre alt geworden, was das Festival MaerzMusik mit einem Cage-Schwerpunkt würdigt. Gleich zur Eröffnung am Samstag kam es dann noch einmal zu einer Kollaboration post mortem von John Cage und Joan La Barbara, mit einer Aufführung seiner „Song Books“ unter der Leitung der Sängerin.

Die „Song Books“ von 1970 veranschaulichen nicht nur, dass Cage sehr entschieden an den tradierten Vorstellungen davon gerührt hat, was Musik überhaupt ist, sondern machen auch deutlich, dass Musik und Performance für ihn eng miteinander zusammenhängen. Überzeugt, dass es in der Musik weniger darum geht, den Klängen die eigenen Ordnungsvorstellungen durch bestimmte Kompositionsverfahren aufzunötigen, als einen Raum für die Interpreten zu schaffen, in dem diese Entscheidungen treffen, wie sie das vorgefundene Material organisieren, setzte Cage auf Zufallsoperationen als Gestaltungsmittel. In den „Song Books“ finden sich kurze Stücke unterschiedlichster Natur, von notierten Melodien bis zur Anweisung, man solle die Linien auf einer Landkarte nachsingen. Jeder der Interpreten stellt daraus ein eigenes Programm zusammen, das parallel zu den Aktionen der anderen Performer „gespielt“ wird.

Platz für Stille

So entsteht „demokratisches“ Musiktheater, in dem auch Platz für Stille ist. Von der war in der Darbietung La Barbaras mit den Musikern ihres Ensembles Ne(x)tworks und den Vokalisten der „Maulwerker“ allerdings wenig zu merken. Im Nebeneinander der Ereignisse gab es vielmehr eine Dramaturgie von zunehmender und abnehmender Dichte mit beständigem Kommen und Gehen im Stil einer aleatorischen Nummernrevue. Da spielten Cello, Violine oder Posaune mal vereinzelt, mal zusammen einige Töne, während die Maulwerker mit La Barbara das Klangspektrum ihrer Organe ausloteten, von klar gesungenen Tönen über Grabesstimmengekratze bis hin zu schrillem Gekiekse, zum Teil elektronisch verfremdet – „extended vocal technique“, nennt La Barbara das Verfahren, mit dem sie zu einer der wichtigsten Sängerinnen der Gegenwart wurde.

Viele der Texte, auf denen die „Song Books“ beruhen, stammen von Henry David Thoreau, so auch der anarchistische Wahlspruch „The best form of government is no government at all“. Diese aus heutiger Sicht etwas didaktisch anmutende Empfehlung zum Verzicht auf jegliche Herrschaft bekam man während der Aufführung gleich mehrfach zu hören, wozu, wie von Cage in den Anweisungen angeregt, wiederholt die schwarze Flagge der Anarchie gehisst wird – wohlgemerkt, nachdem ein Bühnentechniker den zugehörigen Fahnenhalter am Boden festgeschraubt hat.

Übermäßig offensichtliche Momente wie dieser bildeten jedoch die Ausnahme. In den schönsten Augenblicken entstand hingegen eine scheinbar zufällige Poesie des Unerwarteten, etwa wenn die Maulwerkerin Ariane Jeßulat den Assoziationen eines Alltagsworts wie „Fassonschnitt“ nachspürte. Kontroversen löst solche Musik mittlerweile kaum noch aus, dafür schafft sie es aber, sich über den rein konzeptuellen Ansatz hinaus zu behaupten. Eigentlich wäre es da gar nicht nötig gewesen, die „Song Books“ mit Cages „Concert for Piano and Orchestra“ von 1958 zu kombinieren – wobei sich das Orchester auf die sechs Musiker von Ne(x)tworks beschränkte. Es war dann am Publikum, die Klavierpassagen des Pianisten Stephen Gosling als Fragmente aus dem „Concert“ zu deuten. Joan La Barbaras eigene Komposition „Persistence of Memory“ schließlich, die im Anschluss erklang, erschloss nur wenig ästhetisches Neuland, sondern tastete sich durch eine Reihe von Klanggesten des 20. Jahrhunderts. Dass La Barbara, die zugleich dirigierte, ihre Stimme in den Ensembleklang integrierte, statt als Solistin zu dominieren, war immerhin eine angenehme Überraschung.

■ MaerzMusik. Bis 25. März, www.berlinerfestspiele.de