berliner szenen „Casablanca“ im Lichtblick

Mein Zwiebelkeller

Wir sind zu sechst im Vorraum des Lichtblick-Kinos. Es ist zehn nach zwölf, Samstagnacht. Zwei junge Mädchen, die kichernd in der Ecke sitzen, der kahl rasierte Mann am Tisch mit der Mexikanerin, die ein Spiel auf ihrem Handy spielt, dann ein sehr großer, dunkelhaariger Mann, Mitte zwanzig, an der Wand gelehnt – und ich.

Wir haben eine Sache gemein. Wir warten darauf, in den kleinen Kinosaal gelassen zu werden, um uns „Casablanca“ anzuschauen. So unterschiedlich unsere Gründe auch sein mögen, wir haben alle die Entscheidung getroffen, am Samstag ab Mitternacht eineinhalb Stunden mit Ingrid Bergman und Humphrey Bogart zu verbringen. Die zwei Mädchen reden Englisch miteinander und sehen nicht aus, als ob sie den Film schon mal gesehen hätten. Warum, frage ich mich, wollen sie ihn ausgerechnet jetzt sehen? Zwei orientierungslose Erasmusstudentinnen, die Heimweh haben?

Die Mexikanerin und ihr Liebhaber wollen Romantik und einen Ort, an dem man das Handy ausschalten muss. Der dunkle Typ schaut mich interessiert an. Der ist bestimmt jeden Samstag hier.

Ich benutze diesen Film als meinen persönlichen Zwiebelkeller. Ich kenne ihn so gut, dass ich genau weiß, wie ich darauf reagieren werde. Das Wichtigste ist, ich kann an drei Stellen richtig weinen. Das funktioniert so gut, dass, wann immer ich Zeiten erlebe, in denen ich nicht weiß, wie ich fühlen soll, aber vermute, dass Weinen angebracht ist, ich mir diesen Film anschaue. Bei Günter Grass gehen die Figuren aus der „Blechtrommel“ in einen Keller, in dem sie Zwiebeln schneiden, sodass sie endlich weinen können. Im Lichtblick-Kino kann man sich ein Bier bestellen. MAREIKE BARMEYER