Stillschweigend symbiotisch

„Hübsch“, kommentiert sie ungefragt: Gender beim Einkaufen, das ist, wenn die Frau beim Shopping zur Mutti wird. So findet schließlich das Käferchen seinen Nadelstreif – und ein hübsches Sohn-Mutter-Spiel hat man auch gespielt

„Scheiße“, hat sie gesagt, „wie läufst du denn wieder rum, mein Mistkäferchen?“ Wie üblich meinte sie das, was ich mir angezogen habe, damit ich nicht nackt bin. Ich bin kein Dressman, sondern eher ein Mann der inneren Werte; der klassische Fall für den zweiten Blick – wenn man nach dem ersten überhaupt noch mal hingucken mag. „In diesem dämlichen Jackett siehst du aus wie ein Lehrer“, hat sie gemault, „auf so eine scheißwurschtegale Art abgeranzt – wie mein Vater.“ „Dann ist ja alles klar“, habe ich geantwortet, „das ist doch, was ihr immer sucht.“ Ich bin dann aber doch zum Laden mit den gebrauchten Klamotten gegangen. Ohne sie.

Das „Checkpoint“ am Mehringdamm: Im Vorraum stehe ich unentschlossen vor einer Reihe ehemals eleganter Jacketts, jetzt sind sie so ein bisschen abgegriffen, exakt mein Stil. Im Hauptsaal nebenan jammert die einzige Angestellte in ihr Handy: „Das kannst du nicht mit mir machen.“ Offenbar hat sie große Sorgen.

Die habe ich allerdings selber: Ich will mir ein Kleidungsstück kaufen und bin es gewohnt, dabei beraten zu werden. Aber ich bin hier allein – ohne sie. Langsam ziehe ich das Lehrerjackett aus. „Das geht so nicht“, blökt die Verkäuferin, „wir haben da unsere klaren Vereinbarungen.“ Eine Kundin betritt den Vorraum. Sie schlüpft in ein Paar Stiefel, ich in eine Nadelstreifenjacke: nicht übel, nur vermutlich zu groß. Bloß wie soll ich das verlässlich beurteilen – ohne sie?

Zum Glück ist jedoch an ihrer Stelle sie da: Sie hat die Stiefel wieder ausgezogen und kommt auf mich zu. Ich drehe mich vor dem Spiegel. „Hübsch“, kommentiert sie ungefragt, „ein bisschen groß vielleicht.“ „Die Ärmel?“, frage ich piepsig und flattere mit den viel zu großen Ärmeln wie ein Küken, das aus dem Nest gefallen ist, mit den Flügeln. „Vor allem die“, bestätigt sie. Spätestens jetzt erwacht endgültig ihr Gluckeninstinkt: Der Mann muss betreut werden, der Junge. Mutti zieht ihn an – sie ist Mutti. Sie ist bestimmt acht Jahre jünger als ich, doch das spielt keine Rolle, das ist meine normale, äh, Mutti auch.

Nur für diese fünf Minuten haben wir einen stillschweigenden Pakt geschlossen, um in einer einmaligen Interessengemeinschaft unsere Bedürfnisse auszuleben: Ich aale mich in meiner Hilflosigkeit – ich bin doof, blind und geschmacklos. Ich muss beraten werden und sie lechzt danach, mich einzukleiden; alles in ihr schreit nach vorübergehender unverbindlicher Muttiwerdung. Wir brauchen es beide, es ist wie ein prickelndes S/M-, ein Sohn-Mutti-Spiel.

„Danke“, sage ich. Sie lächelt milde und wechselt nach nebenan. Ich probiere ein kleineres Jackett an und folge unauffällig nach. Ich habe sie ständig im Augenwinkel – auch sie weiß immer genau, wo ich bin. Scheinbar unbeteiligt stehe ich eine Weile in der Nähe des Tresens herum, dabei warte ich nur auf den passenden Augenblick. Die Angestellte beachtet mich sowieso nicht: „Du weißt, was dann passiert?“, keift sie ins Telefon. Auf ihrem Weg durch die Gänge strandet meine Ersatzmutti plötzlich direkt neben mir und ich ergreife die Gelegenheit am Schopf. Sie hat ohnehin nur darauf gewartet, schließlich bin jetzt ich an der Reihe. „Aber das hier geht?“, frage ich, „das ist doch wohl besser?“ Ich entblöde mich tatsächlich nicht.

Man muss das verstehen: Im Alter von zwei Wochen wurde ich mit nichts als einem Zehnmarkschein im Wald ausgesetzt und von Dachsen gesäugt. Das war zwar nett, aber keine Mutti. Und mit Mode hatten die es auch nicht so. Sie prüft, genussvoll: „Ja, das ist besser“, nickt sie ernsthaft, „viel besser.“ „Die Ärmel jetzt nicht zu kurz?“ „Nein“, lobt die Leihhenne, „das ist genau richtig so.“ Es fehlt nur, dass sie mir auf den Arsch haut und „lecker“ sagt. Ich bleibe stehen und sie geht fort, für immer, unsere Symbiose ist formlos beendet und genauso muss es sein: Der Moment war heilig und nun ist er vorbei.

Die Verkäuferin nimmt mich instinktiv wahr und würdigt mich keines Blickes. Während sie telefoniert, packt sie das Jackett in die Tüte, nimmt einen Schein in Empfang und gibt mir heraus. „Dann scher dich zum Teufel“, zischt sie böse. Sie kann mich nicht treffen: Ich habe gerade so viel Liebe erfahren – und ich habe ein Nadelstreifenjackett.

ULI HANNEMANN