Nicht ernst nehmen

THEATERREVUE Nicolas Stemann scheitert im Kölner Schauspielhaus mit „Der demografische Faktor“

Kann man aus dröger Statistik Theater machen? Man kann. Wenn man’s kann. Rimini Protokoll hat es vor nicht ganz zwei Jahren in Athen vorgemacht und das eindrückliche Kondensat des griechischen Experiments „Prometheus in Athen“ im Rahmen des Sommerfestivals „Promethiade“ in Essen gezeigt. Die Dokumentar-Theater-Experten stellten damals den exakten statistischen Durchschnitt der Athener Bevölkerung auf die Bühne, der für sich sprach, unendlich viel über die Verfasstheit des globalisierten Großstädters des 21. Jahrhunderts erzählte und nebenher die Bevölkerungspyramide und die fatale Entwicklung der Demografie sehr konkret werden ließ. Das war im besten Sinne des Wortes erhellendes Theater. Weil es das wirkliche Leben ernst nahm.

Was passiert, wenn man’s nicht kann, war nun am Kölner Schauspiel zu erleben, wo sich Jelinek-Experte und Klassiker-Eindampfer Nicolas Stemann am „Demografischen Faktor“ kläglich verhoben hat. Als „Unterhaltungstragödie mit Musik“ war der etwas über zweistündige Abend vollmundig angekündigt worden und schon vorab von großem Aufwand begleitet: Die Proben zur Uraufführung waren öffentlich zugänglich und konnten im eigens eingerichteten Blog verfolgt und bei Bedarf auch kommentiert werden. Damit sollte ein offener, interaktiver Entstehungsprozess simuliert werden.

Eine Selbstumkreisung

Doch die „kleine Theatermanufaktur“, als die Conférencier Stemann sein Team selbstgefällig vorstellte, hat sich in der Selbstumkreisung offenbar ganz buchstäblich verzettelt. So wurde es bloß eine matte, handwerklich lausig schlecht organisierte, schleppende Revue.

Die Musik sollte das verbindende Element sein: „Schön, schön, schön, dass ihr alle gekommen seid“, intonierten zu Beginn Stemann und seine Mitstreiter Thomas Kürstner und Sebastian Vogel betont schief, was wohl als Parodie gemeint war auf Samstagabend-TV-Formate der Marke Musikantenstadel. Dann kam das Verzetteln dran: Stemann verkündete kokett, man habe in der besagten Theatermanufaktur einfach nur „Dinge produziert“. Will sagen Texte, Lieder, Bilder und, ja ja, sogar Ideen, die man säuberlich notiert hat auf farbige Zettel. Die fanden sich nun wieder auf einer Seminartafel, vor der das lässige Terzett stand und selbige fahrig sortierte. Hier und da holte man einen hervor und stimmte ein Lied an, um es gleich wieder zu verwerfen. So ging das eine halbe Stunde. Dann verschwand die Wand und ward nicht wieder gesehen. Sodann wurde per Video auf riesigen, den ganzen Saal einfassenden Leinwänden Statistik referiert und von dem Sozialwissenschaftler Franz-Xaver Kaufmann ebenfalls per Videoeinblendung sachlich erläutert. Und willkürlich unterbrochen. Die traurige Gewissheit: Volkswirtschaftlich betrachtet kostet das Aufziehen eines Kindes 300.000 Euro. Wer kann sich das leisten? Dagegen hielten Stemann und Co.: „Das sieht doch ein Blinder, Deutschland braucht mehr Kinder.“ Dies zu befördern, wurde das Publikum dann aufgefordert, doch einmal wohlgefällig den jeweiligen Nachbarn zu betrachten zwecks eventueller Paarung und baldiger Vermehrung. Zum Anheizen gab’s sogar Rotwein.

Die Kölner nahmen das gelassen, doch die anfänglichen Lacher versickerten rasch und schon nach den ersten Statistik-Referaten kamen Abwanderungsbewegungen in Gang. Der Abend schleppte sich dahin. Da half auch nicht der späte Ansatz einer blödsinnigen Daily-Soap-Handlung, in der ein rüstiger Rentner mit asiatischer Pflegekraft auftrat, dessen Tochter Jaqueline und deren Partner Peter um die Wohnung des Alten rangeln und dabei zu Tode kommen. Immerhin zeigte Myriam Schröder als Jaqueline – neben Ricarda Schenk als frühreifes Kind – den einzig glaubwürdigen Auftritt des Abends in einem langen, geifernden Monolog, dessen Text freilich auch keine neuen Erkenntnisse lieferte. Ein ermüdend selbstgefälliger Abend.

REGINE MÜLLER