fleischbeschau von ILKE S. PRICK
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„Meint ihr, Gisela ist jetzt sauer?“, fragt Sylvia mit einem Anflug von Besorgnis. „Sah nicht so aus“, antwortet Matilde, während sie nachschenkt. „Das ganze Rumknutschen und so. Sie war viel zu beschäftigt.“ Ich bin mir da nicht so sicher, doch das behalte ich für mich. „Ich finde“, nimmt Sylvia den nächsten Anlauf, „sie hätte uns vorwarnen können.“ Matilde sieht sie fragend an: „Damit wir dem Kinderschutzbund Bescheid geben oder was?“ Seufzend lässt sie sich aufs Sofa fallen.

Wir haben uns angestrengt heute Abend. Haben wir wirklich. Das Essen war perfekt, und wir waren äußerst bemüht. Als sie uns damals Hans vorstellte, waren wir bei weitem ungnädiger. Aber eins stimmt schon: Gisela hätte, als sie uns von ihrem neuen, wunderbaren Gernot erzählt hat, ruhig mal erwähnen können, wie alt er eigentlich ist. Dann hätten wir diese Pädophilie-Debatte früher geführt, so ganz unter uns, und nicht beim Ruccola-Salat, wenn er daneben sitzt. Und sie hätte Sylvia auch den blauen Fleck am Schienbein erspart, denn die hätte sich bei der Lasagne wahrscheinlich das Geplänkel über Freud und diese These von wegen Elternübertragung bei altersdifferenten Paaren verkniffen. Obwohl es wirklich interessant ist, dass bei älteren Frauen und jüngeren Männern schon fünf Jahre für eine ordentliche Mutterübertragung reichen sollen. Auch wenn Gernot etwas ungläubig aussah.

Hätte Gisela uns also gesagt, dass er zehn Jahre jünger ist als sie, wäre Matilde beim Nachtisch wohl auch nicht einfach so auf Giselas Lebensversicherung zu sprechen gekommen. Matilde ist ja Begünstigte im Sterbefall. Dass Sylvia dann aber scherzhaft, wo wir schon beim Thema waren, all die Risikofaktoren aufzählen musste, die Gisela beim Abschluss der Versicherung diese horrenden Raten eingebracht haben, war vielleicht etwas zu viel. Sie hätte mit Giselas Krankengeschichte echt nicht so ins Detail gehen brauchen. Doch sauer war Gisela eigentlich nicht. Jedenfalls nicht so richtig.

Vielleicht ist es auch gar nicht schlecht, wenn Gernot weiß, woran er ist. Dann kann er sich das mit dem Sommerurlaub noch mal in Ruhe überlegen. Je früher man storniert, desto einfacher ist es ja.

Vernünftig hörte es sich jedenfalls nicht an, als Gisela freudestrahlend meinte, dass sie gemeinsam einen Surfkurs auf Ibiza machen wollen. Aber Matilde hat ja auch gleich gewispert: „Denk an deine Bandscheiben, Gisela.“ Ganz leise hat sie das gesagt, so dass Gernot so tun konnte, als hätte er gar nichts mitbekommen. Uns anderen hat sie aber aus der Seele gesprochen. Schließlich sind wir diejenigen, die Gisela wieder aufbauen müssen, wenn Gernot sich mit der Surflehrerin aus dem Staub macht. Und Gisela mit Liebeskummer und Ischias? Bitte nicht!

„Wie findet ihr ihn?“, quietscht es aufgeregt gegen halb eins über den Telefonlautsprecher durchs Wohnzimmer. „Ja“, setzt Matilde diplomatisch an, „schon irgendwie …“ – „Nicht wahr?“, unterbricht sie Gisela. „So süß und klug und …“, sie macht eine kurze Pause, „… er wacht auf. Ich muss Schluss machen.“ Die Leitung knackt. „Also: nicht sauer!“ Sylvia atmet erleichtert auf. „Warum auch?“, fragt Matilde grinsend. „So gute Freundinnen wie uns musst du erst mal finden.“