Autos statt Spiele

Heute vor einem Jahr beendete das Internationale Olympische Komitee den Leipziger Traum von den Spielen. OBM Wolfgang Tiefensee tröstet sich darüber mittlerweile mit der BMW-Ansiedlung hinweg

VON MARKUS VÖLKER

Wolfgang Tiefensee hat eine sehr lebendige Erinnerung an den Moment der Abwahl. Voller Pathos blickt er zurück: „Das war ein Tag der großen Schmerzen, der Enttäuschung und gleichzeitig ein Tag, der die Frage aufwarf: Wo sind die neuen Aufgaben, wie geht es jetzt weiter?“ Leipzig, der deutsche Bewerber für die Sommerspiele 2012, scheiterte in Lausanne vor einem Jahr, am 18. Mai 2004, in der ersten Runde der olympischen Kür. Neun Kandidaten waren im Rennen. Havanna schied aus, auch Rio de Janeiro und Istanbul. Leipzig folgte – eine Nachricht, die nicht überraschend kam. Doch in Leipzig löste sie einen Schock aus. Im Stadtzentrum standen die eben noch olympiatrunkenen Massen plötzlich in paralytischer Starre. Manche schüttelten den Kopf, andere kämpften mit den Tränen. Leipzigs „One Family“ trauerte. Auch Wolfgang Tiefensee rang um Fassung. Er hatte sich recht schnell wieder gefangen und übertönte den Katzenjammer mit Durchhalteparolen.

Glaubt man den Worten des Leipziger Oberbürgermeisters, handelt es sich beim sang- und klanglosen Ausscheiden Leipzigs aus dem Kreis der Anwärter nicht um eine Niederlage. „Wir sind nicht gescheitert, wir sind gestoppt worden“, sagt er rückblickend. „Wir haben hier und da nicht die volle Punktzahl erhalten, aber wir waren durchaus konkurrenzfähig.“ Es sei im Sport nun einmal so, dass nicht jeder gewinnen könne. Der Hinweis, dass es vor Jahresfrist fünf Gewinner gegeben habe, nämlich Moskau, New York, London, Paris und Madrid, ficht ihn nicht an: Leipzig habe das Zeug zum Spiel mit den fünf Ringen gehabt. Punkt. Beim Beherbergungskonzept, das IOC-Chef Jacques Rogge euphemistisch als „innovativ“ bezeichnet hatte und das Leipzig neben anderen Nachlässigkeiten zum Verhängnis wurde, hätte das IOC eben „extrapolieren“ müssen, sich also in die Situation kurz vor den Spielen hineindenken müssen – ein nicht minder innovativer Vorschlag.

Musikfreund Tiefensee, der mit Bachs „Dona nobis pacem“, aufgeführt bei der Wahl des deutschen Bewerbers, die Herzen der deutschen Sportfunktionäre erweichte und das favorisierte Hamburg ausspielte, sind im Lauf der Bewerbung viele Misstöne zu Ohren bekommen – eine ganze Sinfonie der Fehlklänge. Da geriet Dirk Thärichen, Geschäftsführer der Olympia GmbH erst in Stasi- und dann in Untreue-Verdacht. Da trat Leipzigs Olympiabeauftragter, Burkhard Jung, von dieser Funktion zurück wegen der Genehmigung dubioser Provisionszahlungen. Da musste der sächsische Olympia-Staatssekretär Wolfram Köhler den Posten verlassen, weil ihm Vetternwirtschaft vorgeworfen wurde. Da geriet Tiefensee höchstselbst unter Druck.

Innenminister Otto Schily sorgte schließlich mit einem Machtwort dafür, dass Tiefensee sich im Hintergrund zu halten habe im Ringen um die Ringe. „Wir hatten mit Schwächen in der GmbH zu kämpfen, wir hatten eine Pleiteetappe nach der deutschen Bewerbung“, sagt Tiefensee, „aber das war nicht wettbewerbsentscheidend.“ Schuld am Scheitern sei die allenfalls regionale Olympiabegeisterung gewesen. „Das Thema Olympia hat nicht an die deutsche Befindlichkeit andocken können. Wir sind nicht gemeinsam den Mount Everest hinaufgestiegen, deswegen sind wir auch nur bis zum ersten Basislager gekommen.“ Der olympische Gipfel scheint für deutsche Aspiranten unendlich weit entfernt, handelt es sich doch nach Berchtesgaden (1992) und Berlin (2000) bereits um die dritte Pleite hintereinander.

Es mag stimmen, dass sich Leipzig nicht der Unterstützung der ganzen Republik sicher sein konnte. Aber auch vor Ort herrschte alles andere als Gemeinschaftssinn. Partikular- und Parteiinteressen, der Zwist zwischen Stadt und Freistaat, zwischen SPD und CDU torpedierten das Projekt Olympia. Dazu kam, dass Leipzig zwar der emotionale Kandidat war, nicht aber derjenige mit den besten Aussichten vor der gestrengen Jury des IOC. Das Nationale Olympische Komitee hatte sich schlichtweg vertan bei der Kür Leipzigs. Die Stadt war zu klein mit seinen 500.000 Einwohnern, auch wenn Jacques Rogge „kleine Spiele“ propagiert hatte. So klein sollten die Spiele denn auch nicht werden. Tiefensee ärgert sich noch heute über „diese indifferenten Aussagen des IOC“: Einerseits hätte das IOC signalisiert, das kleine Leipzig besäße gute Chancen, andererseits hätten die Olympiajuroren nach der Vorauswahl verkündet, dass sie Bewerberstädte mit einer Einwohnerzahl von 1,5 Millionen und darüber präferieren. „Egal, wir müssen nach vorne blicken“, sagt Tiefensee. Zum Beispiel auf die Autostadt Leipzig; BMW hat vergangenen Freitag ein Werk eröffnet. „Da gab es auch fünf Bewerber und wir sind es geworden“, sagt Wolfgang Tiefensee.