ASCHENPUTTEL AM PARK
: Der rote Damenschuh

Beim Küssen im Morgengrauen hat sie den Schuh verloren

Ich bin mit meinem Fahrrad auf dem Weg zur Arbeit. Es weht ein frischer Morgenwind, die Sonne scheint. Ich fahre durch den Mauerpark, biege in die Schwedter Straße ein und sehe dort einen einzelnen roten Damenschuh mit hohem Absatz. Der Schuh sieht wie neu aus und steht aufrecht auf der Straße. Während ich weiterfahre, frage ich mich, weshalb dieser Schuh dort allein auf der Straße steht. Hatte die Frau Angst, wurde sie verfolgt, musste sie rennen und hat dabei ihren Schuh verloren? Oder war es ein wildes Liebesabenteuer? Ja, sie hat getrunken, einen Mann kennen gelernt. Sie sind durch die Kneipen und Clubs gezogen und dann beim Küssen, im Morgengrauen, hat sie den Schuh verloren und es war ihr in diesem Augenblick einfach egal. Oder war ihr der Schuh zu eng?

Ich muss an Aschenputtel denken: „Rucke di gu, rucke di gu, Blut ist im Schuh; der Schuh ist zu klein, die rechte Braut sitzt noch daheim.“ Und Aschenputtel bringt mich zu den Brüdern Grimm und ich denke, dass ich mal wieder die Grabsteine der Brüder Grimm auf dem St.-Matthäus-Kirchhof in Schöneberg besuchen sollte. Das ist ein wirklich schöner Friedhof.

Danach habe ich den Schuh vergessen und erst wieder an ihn gedacht, als ich am Abend auf dem Rückweg von der Arbeit wieder in die Schwedter Straße eingebogen bin. Aber der rote Damenschuh war nicht mehr da. Ist sie zurückgekommen, wollte sie ihren Schuh wiederhaben? Hat die Stadtreinigung den Schuh aufgelesen und ihn kaltherzig entsorgt? Hat ihn ein Fremder gefunden und mit sich nach Hause genommen? Oder hat sie ihren Lover beauftragt, ihr den Schuh wiederzubringen?

Ich fahre durch den dunklen Mauerpark, die Sterne glitzern und diesmal denke ich: „Rucke di gu, rucke di gu, kein Blut ist im Schuh, der Schuh ist nicht zu klein, die rechte Braut, die führt er heim.“ ALEM GRABOVAC