Schon wieder Osteuropa?

24 Lieder im heutigen Eurovisionsfinale von Kiew – gnadenlose Prognosen und höchstwahrscheinliche Irrtümer um Erfolg und Misserfolg, Triumph und Tragödie. Denn: Alles andere als ein Sieg ist eine Niederlage – die das Gegenteil behaupten, lügen

VON JAN FEDDERSEN & IVOR LYTTLE

Zunächst die 25 Lieder aus dem Halbfinale vom Donnerstag – 10 von ihnen schafften es ins Finale; welche, stand bei Redaktionsschluss des taz.mags nicht fest. Von welchem Startplatz aus jene Qualifizierten singen, gibt der deutsche Eurovisionssprecher Peter Urban in der ARD-Übertragung bekannt.

1. Österreich. Global Kryner: Y Asi. Kreuzung zwischen Oberkrainerischem & Bueno Vista Social Club mit den Mitteln von De-Phazz. Die Sängerin im Dirndl singt, jodelt und tänzelt zur Tuba. Geheimfavoriten!

2. Litauen. Laura & The Lovers: Little By Little. Man nehme eine Sängerin, die lange Beine hat und jeden Ehrgeiz, im reichen Westen beachtet zu werden. Sie entschied sich für die Musik. Die netten Beats hat ihr ein schwedisches Produzentengespann verpasst – aber dass sie mehr als einen 14. Platz erreicht, muss bezweifelt werden: Gott sei Dank.

3. Portugal. 2B: Amar. Lusitanischer Versuch, mal nicht unter „ferner sangen“ zu landen. So wie Dulce Pontes einst? Nein. Beide müssen schon für einen 23. Platz dankbar sein: Post-Fado-Brei.

4. Moldawien. Zdob si Zdub: Boonika Bate Doba. Zu Deutsch: Oma schlägt die Trommel. Die Musiker aus ihrer Hauptstadt Cisinau sehen recht zottelig-secondhandig aus – wohltuend unter den Dancetrashfummeln. Alles ist möglich!

5. Lettland. Walters & Kazha: The War Is Not Over. Zwei Männer, sensibel ohnehin und frisiert wie Turin Brakes, verheult-hauchend Gitarre spielend à la Kings of Convenience: Liedermacher nach Rigaer Art. Vernünftiger Text!

6. Monaco. Lise Darly: Tout de moi. Mademoiselle Darly? Schockierend arm an Kraft, schleppend die Intonation: Wenn das Gracia Patricia wüsste!

7. Israel. Shiri Maymon: The Silence That Remains. Dieser Song macht es uns als Publikum leicht, nicht für Israel zu stimmen und trotzdem keine Antisemiten zu sein. Bestürzend sägende Ballade – Weinerlichkeit plus Hava-Nagila-Touch. Nein!

8. Weißrussland. Angelica Agurbash: Love Me Tonight. Rasend-billige Diskonummer mit lasziven Gesten der Interpretin. Muss Osteuropa sich denn immer auf Porno light einen Reim machen wollen?

9. Niederlande. Glennis Grace: My Impossible Dream. Wer will schon über platzende Träume ins Bild gesetzt werden? Für die oberen Ränge könnt es langen, mehr nicht: Es fehlt eine Melodie.

10. Island. Selma: If I Had Your Love. 1999 wurde sie bei der Eurovision in Jerusalem Zweite, deshalb gilt sie als Favoritin. Aber wie in der vatikanischen Konklave heißt es auch beim Grand Prix: Wer als Favorit antritt, fährt unter „ferner sangen“ nach Hause. Selma wird es verkraften, sie weiß gewiss selbst, dass ihr Song grottig klingt.

11. Belgien. Nuno Resende: Le grand soir. Mr. Resende, Sohn des Landes, das einst Salvatore Adamo hervorgebracht hat, wird es kaum überraschen: Kiew wird für ihn kein großer Abend werden. Letztplatzverdächtig.

12. Estland. Suntribe: Let’s Get Loud. Nicht unübel, diese baltischen Mädchen: Es wäre keine Überraschung, würden sie ihre Idole von den Ninjas um einen Rang übertrumpfen. Miese Beats … und dennoch.

13. Norwegen. Wig Wam: In My Dreams. Björn Jovi meets Gary Glitter – sensationeller Auftritt einer Spaßmacherband aus tiefsten Fjordregionen. Melodisch aber … nichtig.

14. Rumänien. Luminita Anghel & Sistem: Let Me Try. Hat sich voriges Jahr Ruslana angeguckt. Gut so. Und von fern sieht sie außerdem wie Ulrike Folkerts aus: Wird hoch gewettet.

15. Ungarn. Nox: Forogi Világ. Übersetzt: Dreh dich, Erde! Eine Art Lord of the Dance nach Pusztaart. Das Land ist erstmals seit vielen Jahren wieder dabei: Man sollte sie nicht gleich wieder ganz nach hinten durchwinken.

16. Finnland. Geir Rönning: Why. Ein Joe Cocker der karelischen Seenplatten singt auf Englisch finnischen Macker-Soul. Finnland hat nie gewonnen: Das wird so bleiben.

17. Mazedonien. Martin Vucic: Make My Day. Balkanplunder. Etwas überhitzter Beat, dünne Stimme, nettes Kostüm: Bleibt nur die Hoffnung auf bewährte all-exjugoslawische Punktesolidarität.

18. Andorra. Marian van de Wal: La mirada interior. Öde: Die 34-jährige Hoteliersfrau muss wohl ab Montag wieder an ihrer Rezeption arbeiten.

19. Schweiz. Vanilla Ninja: Cool Vibes. Estinnen aus Tallinn im Namen der Eidgenossenschaft – eine kluge Entscheidung: Schweizerische Musik ist ja im Grunde ungenießbar. Siegtauglich!

20. Kroatien. Boris Novkovic feat. Lado Members: Vukovi umiro sami. Der Song im perkussivlastigen Walzertakt handelt von sterbenden Wölfen; die Frauen im Chor kreischen beim Schlussrefrain hinreißend!

21. Bulgarien. Kaffee: Lorraine. Der Sänger der Band erinnert an John „Boy“ Walton und andere Männer, denen eine gewisse Unschuld zu Eigen scheint. Man hofft, dass man ihm das träge Lied nicht übel nimmt.

22. Irland. Donna & Joe: Love? Ein Mädchen und ein Junge, der sich wie ein Lookalike von Harry Potter ausnimmt. Eine Schande für das siebenmalige Siegerland der Eurovision.

23. Slowenien. Omar Naber: Stop. Mehr muss nicht gesagt werden. Wenigstens hat er das Aussehen eines Mannes – wenn das denn tröstlich ist.

24. Dänemark. Jakob Sveistrup: Talking To You. Volksschullehrer, den die dänische Vorentscheidung – wo er die Olsen Brothers schlug – zum Ticket nach Kiew gebracht hat. Solide, unaufgeregt, nett. Und süß!

25. Polen. Ivan & Delfin: Czarna dziewczyna. Mist in schlecht gesetzten Noten – und nichts von der scheuen Exaltiertheit der Edyta Gorniak (1994).

1. Semifinalist

2. United Kingdom. Javine: Touch My Fire. Klingt orientalisch, weil aber fast alle Songs des Abends ein wenig Araboethnisches enthalten, ist der erhoffte Effekt neutralisiert.

3. Malta. Chiara: Angel. Man muss mit ihr, der Dritten von 1998, rechnen. Grelle Schnulze. Und: Sie wäre die opulenteste Grand-Prix-Siegerin aller Zeiten.

4. Semifinalist

5. Semifinalist

6. Türkei. Gülseren: Rimi Rimi Ley. Back to the roots? Nix Ska, nix Disko – eher traditionell. Wunderbar türkisch!

7. Semifinalist

8. Albanien. Ledina Celo: Tomorrow I Go. Muss auf TED-Manipulationen durch die Waffenschiebermafia hoffen: Würde sonst des Liedes wegen Letzte.

9. Zypern. Constantinos Christoforou: Ela Ela. Muskulöser Mann mit Schmierfrisur, penetrierender Blick, tanzbodentauglich der Beat. Nur nett.

10. Spanien. Son de Sol: Brujeria. Drei Las-Ketchup-Soundalikes. Mittelfeldprächtig.

11. Semifinalist

12. Serbien & Montenegro. No Name: Zauvijek Moja. Ethnomäßig aufgerüschtes Pompstück. Extrem jugoslawisch. Favorit!

13. Semifinalist

14. Schweden. Martin Stenmarck: Las Vegas. Die Stadt in der amerikanischen Wüste feiert Jubiläum – und die Schweden feiern es europäisch. Super, krass, edel: Don’t go down to Reno!

15. Semifinalist

16. Ukraine. Greenjolly: Razom nas bahato, nas nye podolaty. Orangerevolutionärer Rap zu Ehren von Präsident Juschtschenko, auf Deutsch: „Zusammen sind wir stark.“ Viriler Krach: charmant.

17. Deutschland. Gracia: Run & Hide. Sie hat keine Chance – und könnte sie doch nutzen. Sie ist nur wirklich live Klasse, und das ist ihr Vorteil.

18. Semifinalist

19. Griechenland. Elena Paparizou: My Number One. Noch so ein Dancehallkracher. Die Exfrontfrau von Antique geht auf Nummer Sicher: Takt für Takt ein Schrittchen. Bei erneuter Niederlage sollten die Griechen doch bei Nana Mouskouri vorstellig werden.

20. Russland. Natalia Podolskaya: Nobody Hurt No One. Langweilige Tochter des abgewickelten Sozialismus mit empörend schlechtem Lied im Rock-Style. Keine großen Gesten, dafür werden Tränen fließen, wenn sie nur 19. wird.

21. Bosnien-Herzegowina. Feminnem: Call Me. Hört sich wie eine exaltierte, fröhliche, brave Verbeugung vor den schwedischen Legenden von Abba an. Und zugleich wie eine Geste der Heiligenentehrung!

22. Semifinalist

23. Semifinalist

24. Frankreich. Ortal: Chacun pense à soi. Als hätten die Elektromucker von Air die Chanteuse beraten und sich bei Serge Gainsbourg selig in puncto Performance vergewissert – wirklich sehr passabel.

JAN FEDDERSEN, 47, ist taz.mag-Redakteur; IVOR LYTTLE, 44, Schifffahrtskaufmann in Bremen, ist Herausgeber des Fanzines Euro Song News. Beide lagen in ihren Prognosen der vergangenen Jahre überwiegend falsch