Ein scheinheiliger Krieger

Als vor siebzig Jahren T. E. Lawrence tödlich verunglückte, erlosch mit ihm das merkwürdigste Irrlicht der europäischen Nahostpolitik. Denn ohne Lawrence und sein tragisches Leben sähe die Landkarte von Arabien heute anders aus

VON ARNO FRANK

„You wonder what I am doing? Well, so do I, in truth. Have you ever been a leaf and fallen from your tree in autumn and been really puzzled about it? That’s the feeling.“

(T. E. Lawrence am 6. Mai 1935)

Ein seltsamer Europäer, ein seltsames Leben. Als Soldat an der Spitze des arabischen Aufstands im Ersten Weltkrieg hatte er das Osmanische Reich zu Fall und damit doch ein Unglück über Arabien gebracht, das bis heute nachschwingt. Über die Revolte in der Wüste hatte er einen Bericht geschrieben, und als der verloren ging, schrieb er ihn ein zweites Mal. Als Schriftsteller korrespondierte er auf Augenhöhe mit Zeitgenossen wie Bernard Shaw, als Diplomat mit Winston Churchill.

Seine kurze Nebenrolle auf der Weltbühne machte ihn schon zu Lebzeiten zur Legende, und als sein Name am hellsten leuchtete, da tauschte er ihn gegen einen anderen. Wer war Lawrence von Arabien? Die Frage beschäftigte nicht nur Biografen und Historiker, sondern vor allem ihn selbst.

Die Erinnerung an die Figur des „Lawrence von Arabien“ ist heute noch lebendig, nicht zuletzt dank des Films von David Lean mit Peter O’Toole in der Hauptrolle. Lawrence steckt im messianischen Science-Fiction-Helden Paul Atreides aus „Der Wüstenplanet“ , im jungen Luke Skywalker aus „Krieg der Sterne“ und in „Mad Max“.

Als die US-Truppen auf Bagdad vorrückten, gehörte zur Lektüre im Generalstab neben Clausewitz auch Lawrence’ Buch „Die Sieben Säulen der Weisheit“. Weil „wir da lernen konnten, welche Gefahren uns drohen, wenn uns jemand die Nachschublinien abschneidet“, wie General Tommy Franks sagte.

Am letzten Tag seines Lebens jedenfalls, an einem sonnigen Morgen im Mai des Jahres 1935, war Thomas Edward Lawrence ein Kind. Ein Kind von 46 Jahren, besessen von einem Spielzeug, einem Motorrad. In einem Brief an den Hersteller seiner Maschine schwärmte er gar von einem albernen Wettrennen, bei dem er ein startendes Propellerflugzeug überholt habe. War das noch der gleiche Mann, der Homers „Odyssee“ aus dem Griechischen ins Englische übersetzt und in Paris mit US-Präsident Woodrow Wilson verhandelt hatte?

Für einen Jordanier ist Eid al-Khraisha auffällig dunkelhäutig. Selbstverständlich sei er Araber, betont der 40-Jährige gleich beim ersten Frühstück im Hotel in Amman. Seine Großeltern seien in den Zwanzigerjahren von der afrikanischen Seite des Golfs von Aden eingewandert, erst in den wilden Jemen, dann nach Norden, ins haschemitische Königreich von Jordanien, der Kinder wegen. Vom jungen König Abdullah spricht er mit Stolz. Aber ohne den Glanz, der in seine Augen tritt, als er von einem Besuch in Bagdad schwärmt: „Iraker sind gute Menschen. Ganz einfache, vielleicht ungebildete Leute, aber gute Menschen.“

Seine Meinung über die Besetzung des Landes durch US-Truppen will er nicht preisgeben, nicht vor ausländischen Besuchern. Im Auftrag der jordanischen Regierung wird Eid al-Khraisha unsere Reise in den Süden als Dolmetscher begleiten, denn Deutsch hat er gelernt, in Stuttgart.

Thomas Edward Lawrence wurde 1888 als eines von fünf unehelichen Kinder geboren, die sein Vater Thomas Lawrence, ein walisischer Baron, mit Sarah gezeugt hatte, der Gouvernante seiner ehelichen Sprösslinge. Thomas Edward, in der Familie nur Ned genannt, wuchs in Oxford auf. Und in dem Bewusstsein, als „Bastard“ nie wirklich zum Establishment gehören zu können.

Ein Makel, den er durch elitäre Interessen auszugleichen lernte. Mit Mitschülern gründete er einen kleinen Geheimzirkel, der sich stark an die damals in England enorm populären Maler der präraffaelitischen Bruderschaft anlehnte und deren Theoretiker studierte – allen voran William Morris, einer der Wegbereiter des Jugendstils, der den Buchdruck zur Kunstform erklärte.

Mit siebzehn Jahren radelte er von Oxford quer durch Frankreich bis ins Örtchen Aigues-Mortes an der Mittelmeerküste. Dort hatte sich das bewaffnete christliche Abendland zu seinem allerletzten Kreuzzug eingeschifft, nach Ägypten, im Jahr 1248.

In der Bibel steht, Moses habe vor seinem Tod von diesem Berg noch einmal das Gelobte Land gesehen. Heute können wir durch den Dunst immerhin bleigrau das Tote Meer erkennen, dahinter schemenhaft Jericho. Heute steht dort eine Kirche, renoviert mit katholischem Geld, erbaut mit katholischem Geld über den Resten älterer Kirchen, die auch mit katholischem Geld gebaut wurden. Drei Meter lang ist die Leiter, die in eine Grube im Seitenschiff führt. Katholische Archäologen.

Kies knirscht unter den Schuhen auf dem Weg zur Bronzetafel, die an den Besuch des Papstes erinnert. Aus dem Westen geht ein heißer Wind durch die Zweige der dürren Zedern. Darunter steht, abseits und seltsam deplatziert an einem Ort wie diesem, ein Mann in silbernem Einreiher und raucht. Als er die Zigarette in den Abgrund schnippt, schlägt eine Bö kurz sein Jackett zur Seite und gibt den Blick frei auf das Pistolenhalfter darunter.

„Keine Sorge“, sagt Eid al-Khraisha, „der ist zu unserer Sicherheit hier. Schlimme Zeit, man weiß ja nie in diesem Land.“ Wir fahren weiter, und nach ein paar Kilometern und Kontrollen durch schwer bewaffnete Posten der jordanischen Polizei liegt uns dieses alte, Gelobte Land förmlich zu Füßen, in Form eines detaillierten Bodenmosaiks in der Kapelle von Madaba.

Die illustrierte Landkarte ist 1.400 Jahre alt, und noch immer dümpeln da griechische Handelsgaleeren vor der Küste der Levante, lassen jüdische Händler die Ladungen löschen, blühen Weinstöcke und Städte, pflügen Bauern ihre Felder vor den Toren Jerusalems, schwimmen Fische den Jordan hinab, die erst vor der Mündung des Flusses ins Tote Meer umkehren. „Es ist zu salzig“, erklärt Eid. Östlich des Jordans bewegen sich reich beladene Karawanen nach Osten, nach Arabien, ins Nichts.

Später besuchen wir in Madaba eine Mosaikwerkstatt. Zu Übungszwecken arbeiten die Schülerinnen und Schüler an einer Darstellung von König Abdullah und Königin Rania. Vorlage für das Mosaik ist ein Foto aus einer Boulevardzeitschrift.

Es war eine ehrgeizige Arbeit, mit der Lawrence 1910 sein Studium der Geschichte abschloss. Thema: „Die Einflüsse der Kreuzzüge auf die mittelalterliche Militärarchitektur des 12. Jahrhunderts“.

Weil von Kreuzritterburgen zu dieser Zeit keine Fotos und nur vage Zeichnungen existierten, hätte eine akademisch sorgfältige Lektüre der Sekundärliteratur vollkommen genügt – den Professoren, nicht Lawrence. Der wollte seine Thesen mit Fotos und präzisen Zeichnungen untermauern. Dafür war er vier Monate lang durch die syrischen und libanesischen Provinzen des Osmanischen Reiches marschiert, durch baumlose Wildnis, von Ruine zu Ruine. Einmal wurde er „von einem Esel mit einer Flinte“ beschossen, wie er seinen Eltern schrieb: „Er wollte mich wohl ausrauben“. Lawrence feuerte mit seiner Pistole in die Luft, zur Warnung, und ging seiner Wege.

Immer entlang einer Kette längst geschleifter Befestigungen, hinter denen sich die christlichen Eindringlinge in einer muslimischen Welt auf die Dauer einrichten wollten. Noch die Überreste des Crac de Chevalier, der stolzesten aller Festungen, boten dem Studenten einen „Anblick ohne Beispiel“.

Für Wanderungen durch Landschaften, zu denen er als Europäer keinen Zugang hatte, verkleidete er sich dabei zum ersten Mal als Einheimischer. „Als Araber wäre ich nicht durchgegangen“, schrieb er später, „aber als Mitglied eines der vielen anderen vielen Völker in Syrien“, wie der Griechen, Türken, Drusen, Kurden oder Armenier.

Bei Aleppo wurde er denn auch 1909 von der türkischen Armee aufgegriffen, der Fahnenflucht verdächtigt und bis zur Klärung seiner Identität ins Gefängnis gesteckt. Trotzdem – und obwohl ihm in Aleppo auch die Kamera gestohlen wurde –war diese erste Expedition in den Nahen Osten ein voller Erfolg. Seine Arbeit erschien in Buchform, illustriert mit den eigenen Zeichnungen.

Zeitgenossen beschreiben den damals 22-Jährigen als selbstbewussten, leicht blasierten und eigenbrötlerischen Intellektuellen, dessen akademischer Karriere nichts mehr im Wege stand. Außer er selbst natürlich.

Und der Krieg.

Als die Kreuzritter das Reich der Seldschuken zerschlagen hatten, sollte aus seiner Konkursmasse das Osmanische Reich hervorgehen. Als Jahrhunderte später mit Mehmed V. der letzte osmanische Sultan den Thron in Konstantinopel bestieg, war er schon nicht mehr Herr der Lage. Faktisch war 1909 die Macht im Staate längst auf eine Gruppe von hohen Beamten und Offizieren übergegangen, die sich einer Modernisierung des Reichs nach dem Vorbild europäischer Nationalstaaten auf Basis des Islam verschrieben hatten.

Es waren diese so genannten Jungtürken, die später den Völkermord an den Armeniern anordneten. Und die Jungtürken waren es auch, die sich im August 1914 in einem geheimen Abkommen auf die Seite des Deutschen Reiches stellten.

Mit den Deutschen teilten die Türken die imperialen Interessen und die Feinde. Schließlich kämpften türkische Truppen bereits gegen eine andere zerfallende Monarchie, das russische Zarenreich, um die Vorherrschaft auf den Dardanellen, im Kaukasus und in Armenien.

Überdies hätte die strategische Lage der Türken zu Beginn des Krieges günstiger nicht sein können: Ihre Blockade der Meerenge am Bosporus machte jeden Nachschub für die Russen über das Schwarze Meer unmöglich. Ganz im Süden standen die Türken an der Grenze zu Ägypten, unweit des von den Briten kontrollierten Suezkanals, während sie von der Hafenstadt Akaba aus den englischen Handelsrouten durch das Rote Meer nach Indien gefährlich werden konnten. Die europäischen Kolonialmächte, so die Türken, hätten bereits die halbe Welt unter sich aufgeteilt und im Nahen Osten nichts zu suchen.

Eigentlich hatten auch die Hethiter nichts verloren im Nahen Osten. Das Volk siedelte ursprünglich an der südlichen Schwarzmeerküste, bevor es sich vor etwa 3.500 Jahren auf den Weg nach Süden machte. Immer schön der Reihe nach unterwarf es die untereinander zerstrittenen Fürstentümer Anatoliens; Assyrer und Sumerer konnten erfolgreich auf Distanz gehalten oder per Vertrag zu Vasallen gemacht werden. Erst als die Hethiter ihr Reich entlang der fruchtbaren Levante bis ins südliche Palästina ausgedehnt hatten, trafen sie auf einen ebenbürtigen Gegner: Ägypten.

Nach dem üblichen Hauen und Stechen war es ein Friedensvertrag mit Pharao Ramses II., der die Gegend ab 1270 vor Christus dauerhaft befriedete und damit den Hethitern zu kultureller und wirtschaftlicher Blüte verhalf. Zur vollen Entfaltung kamen hethitische Macht und Pracht vor allem in der Hauptstadt Karkemisch, am Oberlauf des Euphrat im heutigen Syrien gelegen.

Als Assistent des British Museum war Thomas Edward Lawrence von 1911 bis 1913 an den Ausgrabungen in Karkemisch beteiligt. Die Archäologen hatten sich mühsam durch mehrere Schichten Schutt von Städten zu wühlen, die im Laufe der Jahre auf den Ruinen ihres eigentlichen Grabungsziels entstanden und wieder untergegangen waren. Hier erwarb Lawrence Fähigkeiten, die ihn für seinen späteren Einsatz in Arabien prädestinieren sollten: Zeitweise leitete er einen Trupp von bis zu 200 einheimischen Arbeitern, verbesserte sein Arabisch und lernte den Umgang mit Dynamit. Und mit Diplomatie, weil er auf die Loyalität der Arbeiter kaum zählen konnte.

Vor allem dann nicht mehr, als seiner archäologischen Grabung eine Wanderbaustelle in die Quere kam: deutsche Ingenieure der Bagdadbahn, die höhere Löhne bezahlen konnten und, schlimmer noch, ausgerechnet bei Karkemisch eine Brücke über den Euphrat spannen wollten. Das für den Damm zur Auffahrtsrampe benötigte Gestein sprengten die Deutschen kurzerhand aus dem antiken Schutthügel. Eindringlinge der Neuzeit, die über dem Erbe der Eindringlinge vergangener Jahrtausende einander ins Gehege kamen.

Auf der Autobahn durch die jordanische Wüste geht es gemächlich zu. Wenige Privatwagen teilen sich das endlose Betonband mit Ziegenherden und keuchenden Mercedes-Lkws, deren Dieselwolken schwarz über dem flimmernd braunen Horizont stehen. Die verblassten „Aldi“- oder „Eismann“-Aufschriften verraten, dass die Lkws in Deutschland ausgemustert und nach Arabien verkauft worden sind. Hin und und wieder breitet ein Fahrer auf dem Standstreifen seinen Teppich aus und betet, hinweg über die parallel zur Autobahn verlaufenden Reste der gepflasterten Römerstraße, vorbei an der Silhouette einer Kreuzritterburg, immer Richtung Mekka.

Erst nördlich von Akaba, wo die Autobahn auf den Zubringer aus Saudi-Arabien trifft, ist es mit dem Idyll vorbei, denn schnallt sich sogar Eid al-Khraisha an. Denn dann kommen die Saudis, treiben ihre US-Geländewagen in Geschwadern wahllos mal rechts, mal links am langsameren Verkehr vorbei. Es wird viel und wild gestikuliert, einmal ersetzt sogar eine aus dem Fenster gehaltene Schrotflinte den Blinker. Immerhin. Eid schüttelt den Kopf, jedes Mal fürchte er sich vor diesem Abschnitt der Strecke: „Sie können nichts dafür“, sagt Eid, „sie sind Saudis. Und Saudis sind verrückt.“

Auf Höhe des Wadis Rum kreuzen Eisenbahnschienen die Autobahn. Schranken gibt es keine. Warum auch? Heute noch schleichen die Züge, beladen mit silbern blitzenden Containern aus dem Hafen von Akaba, in bequemem Aufspringtempo durch eine Landschaft, so flach, dass sich vom Horizont sogar ein streunender Hund abheben würde. Die Schienen teilen sich hier irgendwo. Eine Strecke geht weiter nach Akaba, die andere zweigt nach Südosten ab, Richtung Medina, ins Hinterland der saudischen Küste am Roten Meer, in den Hedschas.

„Es ist erschütternd, welche Schäden die Bagdadbahn an den historischen Stätten anrichtet“, schrieb Lawrence 1913 an die Londoner Times, was einen offiziellen Protest des deutschen Generalkonsuls in Aleppo zur Folge hatte. Am Ende der Affäre durften die Deutschen auf Intervention der Türken weitersprengen, wenngleich sie sich auf die römischen und griechischen Reste beschränken mussten.

Für die englischen Archäologen hatte das den Vorteil, dass ihnen die deutschen Ingenieure die Arbeit abnahmen, sich eigenhändig bis nach Karkemisch durchzubuddeln.

Nebenbei blieb Lawrence genug Zeit, seinen schriftstellerischen und publizistischen Träumen nachzuhängen. Eine private Buchdruckerei schwebte ihm vor. Ein Buch „über die sieben wichtigsten Städte in der Geschichte des Nahen Ostens könnte ganz interessant sein“, wie er damals notierte. Einen hübschen Titel hatte er auch schon: „Die sieben Säulen der Weisheit“, angelehnt an einen biblischen Spruch Salomons („Die Weisheit hat ihr Haus gebaut und ihre sieben Säulen behauen“).

Im Januar 1914 aber schloss sich Lawrence einer „kartografischen und archäologischen Expedition“ durch den nördlichen Sinai an, wie es offiziell hieß. Tatsächlich war es seine erste Mission für den britischen Geheimdienst.

Die britischen Truppen drangen ab 1914 mit wechselndem Erfolg vom Sinai aus nach Norden vor. Die Türken sollten aus Palästina, aus dem Libanon und aus Syrien verdrängt, die Dardanellen mussten befreit werden.

Lawrence wurde 1916 als Verbindungsmann der Briten in den Hedschas geschickt, wo er den schlecht organisierten Beduinenkriegern des Fürsten Feisal bei ihrem Aufstand gegen die Türken dienen sollte. Als Militärberater ohne Militärerfahrung, auf dem „Nebenkriegsschauplatz eines Nebenkrieges“, wie er selbst schrieb.

Ihm gelang, woran die heillos zerstrittenen Stämme gescheitert waren – er einte die Araber, plante, koordinierte und leitete ihre militärischen Kampagnen. Dabei mag es von Vorteil gewesen sein, dass er den Arabern ohne die sprichwörtliche Arroganz britischer Offiziere begegnete. Vielleicht war es überhaupt nur einem akzeptierten Fremden möglich, den Beduinen ein nationales Bewusstsein zu geben.

Eine seiner nächtlichen Ansprachen an die Stammesführer hat Lawrence in seinem Bericht selbst paraphrasiert: „Der Tod würde als die beste unserer Taten erscheinen, die letzte freie Hingabe, die in unserer Macht läge, unsere endgültige Muße“, erinnert er sich, und: „Wir müssten glauben, durch und durch, dass es keinen Sieg gebe, außer in den Tod zu gehen, kämpfend, in einem Übermaß an Verzweiflung der Allmacht zuschreiend, doch noch härter zuzuschlagen, auf dass gerade durch ihr Zuschlagen sie unser gemartertes Ich zurechtschmieden möge zur Waffe ihres eigenen Verderbens.“

Ein Selbstmordattentäter der Hamas hätte heute seine Motivation kaum besser ausdrücken können.

In den folgenden Jahren überführte T. E. Lawrence die Methoden des Guerillakrieges in die Moderne. Seine Anschläge auf die Eisenbahnlinien demoralisierten die türkische Armee nachhaltig. Weil die Hafenstadt Akaba von der See aus uneinnehmbar war, stürmten die Araber sie im Juli 1917 vom Inland her – die völlig überraschten Türken konnten ihre aufs Wasser gerichteten Geschütze nicht schwenken.

Dieser größte militärische Triumph wurde Lawrence ausgerechnet von einem russischen Revolutionär verdorben: von Lenin. Da er sich den Verbündeten des Zaren nicht verpflichtet fühlte, machte er 1917 das so genannte Sykes-Picot-Abkommen publik. Darin hatten, ganz wie früher die Ägypter und Hethiter, die Engländer und Franzosen den Nahen Osten unter sich aufgeteilt. England fiel dabei ein Gebiet zu, das etwa dem heutigen Jordanien, dem Irak und dem Gebiet um Haifa entspricht. Frankreich sollte die Herrschaft über den Nordirak, Syrien und den Libanon ausüben.

„Ich hatte geglaubt, wir hätten England von den Imperialisten à la Rhodes befreit [Cecil Rhodes gründete Rhodesien, heute Simbabwe; Anm d. Red.]. Sie sind die Pest, ihre Zeit ist abgelaufen“, notierte Lawrence, zunehmend verbittert darüber, wie die Araber abgespeist wurden.

Wichtiger als ihre arabischen Verbündeten waren den Briten die US-Juden, denen sie mit der Balfour-Erklärung von 1917 erstmals einen eigenen Staat auf dem Boden ihres Protektorats Palästina in Aussicht stellten.

Am 12. August 1917 traf Lawrence in Jerusalem den radikalen britischen Zionisten Aaron Aaronsohn, der anschließend notierte: „Ein Gespräch ohne das leiseste Zeichen von Freundlichkeit. Er hat eine sehr hohe Meinung von sich selbst. Er hält mir einen Vortrag über unsere Kolonien, über den Geist und die Gefühle des arabischen Volkes und dass wir gut beraten wären, uns von den Söhnen Arabiens assimilieren zu lassen etc. Während ich ihm zuhörte, war mir, als würde ich der Vorlesung eines preußischen Antisemiten beiwohnen, nur auf Englisch. Ich fürchte, viele unserer Archäologen sind von diesem l’esprit boche infiziert. Er war offen gegen uns. Er ist, im Kern, ein Missionar.“

Am 11. Dezember 1918 buchte Aaronsohns Kollege Chaim Weizmann den „Missionar“ als Dolmetscher für sein Gespräch mit Fürst Feisal. Dieses erste arabisch-jüdische Gipfeltreffen der neueren Geschichte dauerte 45 harmonische Minuten, beide Seiten versicherten sich gegenseitig ihrer Wertschätzung, und Feisal resümierte launig: „Es wäre doch gelacht, wenn sich unsere Völker Palästina nicht teilen könnten.“

Lawrence hatte den Arabern ein Zelt versprochen, das sich vom Mittelmeer bis zum Indischen Ozean spannt. Die kümmerliche Hütte, die ihnen schließlich von den Siegermächten zur Selbstverwaltung überlassen wurde, war ab 1923 das Königreich Jordanien. Es ist, wenn man so will, das Einzige, was Lawrence bei den Friedenskonferenzen nach dem Krieg erwirken konnte und was bis heute Dauer hat.

Nach Gesprächen um ein irakisches Königreich, in denen er Winston Churchill als Berater zur Seite stand, zog Thomas Edward Lawrence sich endgültig vor einer Öffentlichkeit zurück, die auf einmal nicht genug bekommen konnte von Lawrence von Arabien und seinem romantischen Kampf im Morgenland, wie ihn vor allem US-Zeitungsberichte ihren Lesern schilderten. Die hatten genug von den industrialisierten Blutmühlen der Westfront und wandten sich begeistert dem exotischen „Nebenkriegsschauplatz eines Nebenkriegs“ zu.

Lawrence von Arabien sollte Arabien nach 1923 nie wieder betreten.

Zwischen den gewaltigen Tafelbergen des Wadis Rum hat der Sand der Wüste tatsächlich etwas von einem Meer. Ein historischer Eisenbahnwagen steht dort, wo Lawrence und die Araber sich vor dem Angriff auf Akaba gesammelt hatten, gefüllt mit Lawrence-Nippes aller Art. Ein Bergrücken in der Nähe heißt „The Seven Pillars“, der Form und der Vergangenheit und der Touristen wegen. Nach Osten öffnet sich das Sandmeer zum Hedschas, zu der saudischen Wüste.

Die größte Gefahr droht hier von saudischen Schmugglern, die auf Lawrence’ ehemaliger Route heute heimlich Handys über die Grenze nach Jordanien schaffen. Eid al-Khraisha gerät ins Schwitzen, wir wollen weg und weiter.

Später, abends, sitzen wir bei gezuckertem Tee und einer Wasserpfeife auf Plastikstühlen am Strand von Akaba, die Füße im schlaff anplätschernden Roten Meer. In der Dämmerung kreiseln sachte die Frachtschiffe um ihre Ankerleinen. Hell erleuchtet liegt direkt gegenüber Elat, wie eine Fata Morgana, ein israelisches Ibiza. Tagsüber kann man von hier aus, ohne sich auch nur einen Meter von der Stelle zu bewegen, Ägypten, Jordanien, Israel und, wenn man sich ein wenig nach vorne beugt, sogar Saudi-Arabien sehen. „El Awrence?“, seufzt Eid und zieht an der Pfeife, atmet aus, schaut dem über dem Wasser verwehenden Rauch nach und sagt: „Ein Spion der Engländer. Er hat uns verraten.“

Zwölf Jahre, von 1923 bis 1935, diente er als einfacher Soldat unter dem Namen T. E. Shaw in der britischen Luftwaffe, zeitweise in Indien. Lawrence vollendete „Die sieben Säulen der Weisheit“, halb Bekenntnis-, halb Kriegsbericht, von dem er hoffte, er würde einmal den Stellenwert von „Moby Dick“ oder den „Brüdern Karamasow“ haben.

Posthum erschien „Unter dem Prägestock“, ein Werk, das sich vordergründig der harten Ausbildung in den Lagern der Armee widmete, eigentlich aber das Dokument der freiwilligen Selbstvernichtung einer masochistischen Persönlichkeit ist, die sich nie offen zu ihrer Homosexualität bekennen mochte – T. E. Lawrence, ein verspäteter, umgekehrter Oscar Wilde. „Wenn ich mir aussuchen könnte, als was ich in Erinnerung bleiben möchte“, schrieb er, „dann als Mann des Wortes.“

Er schied im März 1935 aus dem Dienst. Im Idyll der Grafschaft Dorset wollte er seinen Jugendtraum verwirklichen und eine private Druckerei eröffnen, mit einer besonders kostbaren Ausgabe seiner „Sieben Säulen“, nur für Abonnenten. Nebenbei führte er, wie immer, viele Korrespondenzen. Auch mit Oswald Mosley, dem Führer der englischen Faschisten. Einen Kriegshelden wie Lawrence, tja, den hätten die britischen Braunhemden in ihren Reihen gern begrüßt.

„Ein Motorrad mit einem Tropfen Blut im Tank ist besser als alle Reitpferde der Welt“, schrieb Lawrence begeistert an George Brough, den Hersteller der Brough Superior SS 100. Es war das erste Motorrad mit drehbarem Gasgriff, mit sagenhaften 75 PS, einer garantierten Höchstgeschwindigkeit von 177 Stundenkilometern und wurde in Kleinserie hergestellt.

Wenn man den 1.000er-Zweizylinder aus niedrigen Drehzahlen beschleunigt, dann grollt er tatsächlich so grimmig und guttural wie ein Kamel, das in seinem Mittagsschlaf gestört wird. Brutale Beschleunigung, lausige Bremsen, lächerliches Fahrwerk. Die Maschine war für damalige Verhältnisse eine Waffe. Lawrence hatte sieben Exemplare davon besessen. Er gab ihnen sogar Kosenamen, etwa „George IV“ nach dem englischen König.

Am Morgen des 19. Mai 1935 ist Lawrence mal wieder auf der Landstraße unterwegs. Mit Tempo, ohne Helm. Hinter einer Kuppe plötzlich zwei Kinder, auf Fahrrädern. Dem Rasenden müssen sie wie ein stehendes Hindernis vorgekommen sein. Als er den Radfahrern ausweichen will, verliert er er die Kontrolle über seine SS 100. Lausige Bremsen, lächerliches Fahrwerk. Ein Baum steht heute an der Stelle am Straßenrand, wo Thomas Edward Lawrence sich das Genick brach.

Die Maschine hatte die offizielle Fahrgestellnummer GW 2275, privat nannte Lawrence sie liebevoll „Bukephalos“. Nach dem Pferd, das Alexander den Großen bis nach Indien getragen hatte – auch ein seltsamer Europäer, der ein Weltreich erobern wollte und in Arabien verloren ging.

ARNO FRANK, Jahrgang 1971, ist taz-Redakteur und lebt in der Berliner Betonwüste