Kafka, der Erregende

Erweckung während der Emigration: Walter H. Sokel, Nestor der Kafka-Forschung, eröffnete die Mosse-Lectures, die diesmal den großen Franz K. zum Thema haben

Walter H. Sokel ist ein schlanker, alter Herr mit kleinen Augen und einem offenen Lächeln. Am vergangenen Donnerstag konnte man ihn klein und freundlich allein hinter dem mit sechs Mikrofonen ausgestatteten Präsidialtisch am Kopf des Senatssaals im Hauptgebäude der Humboldt-Uni sitzen sehen. Fast wäre man versucht, zu sagen, dass das ein wenig kafkaesk aussah – aber diese Bezeichnung ist zu nahe liegend. Um Kafka sollte es bei dem Vortrag gerade gehen.

Walter H. Sokel ist Professor em. für deutsche Literatur an der University of Virginia und – zusammen mit Wilhelm Emmerich und Heinz Politzer – einer der drei großen Nestoren der Kafka-Forschung, wie der Berliner Literaturwissenschaftler Klaus R. Scherpe in seiner Einführung anmerkte. Unter den drei Forschern ist er, darf man ergänzen, der gewissenhafteste Leser. Lesen betreibt Sokel mit großer Ernsthaftigkeit und Akribie. Das kam deutlich heraus in den eineinhalb Stunden, mit denen Sokel die Mosse-Lectures des diesjährigen Sommersemesters eröffnete; in insgesamt vier Vorlesungen soll darin im 2-Wochen-Abstand der „Kontinent Kafka“ vermessen werden.

Bevor Sokel die Ambivalenzen in Kafkas Prosa herausarbeitete, denn darum war dem 1917 in Wien Geborenen ein Gelehrtenleben lang zu tun, erzählte er eine Erweckungsgeschichte: wie er selbst als Leser zu Kafka fand und wie das sein ganzes Leben ändern sollte. Und zwar lernte Sokel seinen späteren lebenslangen Forschungsgegenstand 1941 auf seiner Überfahrt über den Atlantik kennen, indem er „Die Verwandlung“ las; vor den Nazis musste er in die USA emigrieren.

Die Lektüre muss ihm wie eine Offenbarung vorgekommen sein; rührend zu sehen, wie der inzwischen über 80-Jährige sich an die Erschütterungen erinnerte, die die Bekanntschaft mit Gregor Samsa bei dem jungen Mann, der Sokel einmal selbst war, auslöste. Von einer „magnetisierenden Wirkung“ Kafkas sprach Sokel und davon, wie er sich noch auf dem Schiff vornahm, Literaturwissenschaftler zu werden, um dieser Wirkung auf die Spur zu kommen. Überhaupt hatte Kafka bei ihm eine „erregende“, „Energien erweckende“ Wirkung. Ausdrücklich wundert er sich darüber, dass jemand Kafka deprimierend finden könne.

Nach dieser autobiografischen Erzählung ging Sokel den Bildungsroman seines Kafka-Verständnisses minutiös durch – er hat die Erzählungen und Romane immer wieder nach Details durchpflügt, die ihm neue Aspekte der Texte eröffnen konnten. Die Vielschichtigkeit der Texte stellte ihm stets neue Deutungsaufgaben, die Sokel dazu brachten, das Bedürfnis nach eindeutigen Sinnzusammenhängen bei diesem Autor ganz zurückzuweisen. Kafkas Helden seien immer auch Spottfiguren, die Auflehnung gegen die patriarchalische Vaterwelt sei immer auch zugleich der Wunsch nach Unterwerfung unter die väterliche Autorität – in solchen Ambivalenzen macht Sokel das Grundprinzip des Kafka’schen Schreibens aus.

Den Eindruck, dass Sokel seinen damaligen Beschluss, Kafka-Forscher zu werden, irgendwann bereut habe, macht er in keiner Sekunde. Am Schluss hatte man unbedingt den Eindruck, Nachrichten aus einem erfüllten Forscherleben erhalten zu haben.

DIRK KNIPPHALS

Am 2. Juni folgt der zweite Vortrag der Mosse-Lectures: Gerhard Neumann zum Thema „Kafka als Ethnologe“