„Die Intrige herrscht am Hofe Kiews“

Gesang ohne politische Folgen – der Politologe Wladimir Polochalo sieht keine Annäherung zwischen Ukraine und EU. Präsident Juschtschenko werde zwischen Interessen der Oligarchen und Ansprüchen der Bevölkerung aufgerieben

Premierministerin Julia Timoschenko hat der dunklen Geschäftswelt den Krieg erklärt. Sie kann sich aber nicht durchsetzen

taz: Der European Song Contest in Kiew macht die Ukraine nach der orangenen Revolution wieder mal einen Tag lang zum Mittelpunkt Europas. Bringt er die Ukraine näher an Europa?

Wladmir Polochalo: Etwas vielleicht. Doch die Erfahrung nach der Revolution im November, als Europa die Ukraine erst entdeckt hat, stimmt pessimistisch. Denn das Verhältnis der EU zur Ukraine hat sich seitdem nicht grundlegend geändert. Wenn es Fortschritte gibt, sind sie eher rhetorisch und deklarativ. Das ist verständlich, denn die neue Regierung Wiktor Juschtschenkos muss erst zeigen, dass sie bereit ist, die Kopenhagener EU-Kriterien für eine Aufnahme auch umzusetzen. Leider bewegen wir uns nur sehr langsam vorwärts. Bei der Jugend und in der Mittelschicht ist die europäische Integration aber sehr populär. Wenn die Politik es geschickt angeht, ließe sich aus Europa ein Leitmotiv formulieren, das genügend Kraft und Attraktivität entfalten könnte, um gesamtgesellschaftlich als eine konsolidierende nationale Idee zu wirken.

Präsident Juschtschenko ist im vierten Monat im Amt. Wie ist die erste Bilanz?

Die Regierung ist zurzeit noch als Feuerwehr unterwegs. Überall müssen Brände gelöscht werden, die in der Vergangenheit gelegt wurden. Außerdem ist sie gezwungen, auf Stimmungen in der Bevölkerung Rücksicht zu nehmen und Versprechen einzulösen. Daraus resultieren populistische Maßnahmen wie die Erhöhung der Renten und der Beamtenbesoldung. Die Regierung ist auf den Moment fixiert und handelt punktuell, strategische Entscheidungen kommen zu kurz. Außerdem stellt die Regierung keine einheitliche Mannschaft dar, sie verkörpert eher einen postrevolutionären Kompromiss. Ein Nachteil ist, dass ihr alte und neue Oligarchen angehören, denen Juschtschenko verpflichtet ist, weil sie ihn unterstützt haben.

Bedeutet das, die Trennung von Politik und Geschäft lässt sich auch langfristig nicht durchsetzen?

Juschtschenko geht das Problem zu langsam an und lässt es auch an der nötigen Beharrlichkeit fehlen. Er holte wieder Leute in Ämter, die partikular korporative Interessen vertreten, übergeordnete nationale Ziele aber vernachlässigen. Premierministerin Julia Timoschenko hat der dunklen Geschäftswelt, der Korruption und dem Schmugglerwesen den Krieg erklärt. Sie kann sich aber nicht durchsetzen, weil Vertreter der neuen Macht hintenrum versuchen, die Maßnahmen zu unterlaufen, weil deren Geschäftsinteressen davon betroffen wären. Diese Kreise wollen einen Keil zwischen die Premierministerin und den Präsidenten treiben. Das hat wiederum eine Verdoppelung der Handlungsstrukturen zufolge. Besonders deutlich tritt diese Symmetrie im Verhältnis des Chefs des Sicherheitsrates, des Schokoladen-Oligarchen Petro Paraschenko, und der Ministerpräsidentin hervor, die plötzlich zwischen den Stühlen sitzt. Noch dominiert die Intrige das Geschehen am Hofe in Kiew.

Aus den angekündigten Reprivatisierungen wird also nichts?

Deren Gegner verpassen Timoschenko das Image einer Bolschewikin in Designerkleidern. Wenn es eine unabhängige Justiz gäbe, wäre die Reprivatisierung kein Problem. Der Umbau des Justizwesens genießt aber keine Priorität. Daher entsteht der Eindruck, die von der Rücknahme der Privatisierung Betroffenen seien Opfer politischer Repressionen. Außerdem wollen die alten Eigentümer durch solche Propaganda ausländische Investoren abschrecken.

In der Revolution bewies die Gesellschaft, dass sie in der Lage ist, ihre Interessen zu verteidigen. Reagiert sie auf die Hofintrigen?

Der Präsident und Timoschenko stehen noch hoch im Kurs. Die Gesellschaft ist aber wachsam und reagiert langsam auch kritischer, doch gibt es keine institutionalisierte kritische Öffentlichkeit, die die Rolle einer parteipolitisch organisierten parlamentarischen Opposition übernehmen könnte. Langsam entsteht etwas, woraus sich auch Volksparteien entwickeln könnten. Die alten Strukturen behindern den Prozess aber. So dürfen neue Organisationen aufgrund des alten Wahlgesetzes an der Parlamentswahl 2006 noch nicht teilnehmen. Vielleicht fürchten die alten Kräfte, die orangene Revolution könnte wieder aufflammen. Aber bei der übernächsten Parlamentswahl 2011 wird sich die Parteienlandschaft grundlegend verändert haben. Was sich heute im Parlament Opposition nennt, ist nur ein kleiner opportunistischer, sehr enge Interessen vertretender Klüngel.

In Deutschland ist der Begriff Nationalismus sehr negativ besetzt. Den Entwicklungen in der Westukraine begegnet man daher eher zurückhaltend …

In der Ukraine formiert sich neben der Bürgergesellschaft auch der Staat als eine politische Nation: Weder der Westen noch der russischsprachige Osten des Landes können heute noch eine eigenständige Rolle ohne das Zentrum spielen. Nationalismus als eine Ideologie der aggressiven Ab- und Ausgrenzung, wie etwa in Russland, existiert bei uns nicht. Der ukrainische Nationalismus wirkt eher als Vermittler demokratischer Inhalte, der die Tür in Richtung offene Gesellschaft aufgestoßen hat.

INTERVIEW: KLAUS-HELGE DONATH