Der Herr der Visionen

SCHAUSPIEL Robert Schuster zeigt in Bremen Calderóns „Das Leben ein Traum“ so, als wäre der Protagonist Sigismund ein zeitgenössischer Mensch – ohne das barocke Stück dafür zu modernisieren

Calderón schickt Sigismund auf einen der wildesten Ritte der Theatergeschichte

Gerechtigkeit? Ha! Was wäre Gerechtigkeit? Nachdem ihm das Volk den Thron erobert hat, und der Pöbel beginnt, sich laut Gedanken über eine angemessene Belohnung zu machen, zückt Prinz Sigismund eine Fernbedienung: Die auf die Rückwand der Bühne projizierten, mit roter Schminke überkleisterten, nackten Männer, des Prinzen unheimliche Truppen, sie verschwinden. Wer bräuchte Aufständische – nach dem erfolgreichen Aufstand?

Mit wahrhaft fürstlicher Beiläufigkeit entledigt sich Timo Lampka seiner Helfer: In Robert Schusters Bremer Inszenierung von Calderóns „Das Leben ein Traum“ spielt er den Haupthelden Sigismund. Hier schwingt er sich – scharfsinnige Pointe des klugen Video-Konzepts – endlich zum Souverän der Visionen auf: Und Lampka kostet diesen Moment der Freiheit sichtlich aus.

Er hat auch allen Grund dazu: Sigismund wird von Calderón auf einen der heftigsten Parforce-Ritte der Theatergeschichte geschickt. Das Stück hatte der Dramatiker 1632 als „comedia seria“ bezeichnet, als ernste Komödie, und Sigismunds Rolle später als die des Menschen an sich bestimmt: Dessen Vater, König Basilius, hält ihn seit frühester Kindheit in einem finsteren Verließ, weil das Horoskop einen Tyrannen verheißt. Als der greise Herrscher an der eigenen Prophezeiung zweifelt, wird Sigismund probehalber auf den Thron gesetzt, wo er – kein Wunder nach dieser Erziehung – sich als Mörder und Vergewaltiger betätigt. Prompt wird er wieder lebendig begraben.

Dann bricht die Revolte los: Das Volk will keinen vom Altkönig willkürlich bestimmten Aufsteiger als Herrscher. Es kämpft – reichlich barock – für den Monarchen, der Gottes weisem Ratschluss entspricht. Also Sigismund. Dessen Drama beginnt im tiefsten Abgrund des Jammertals. Im Bühnendunkel liegt er, in Ketten, als des „Unglücks unglücklichster Sohn“, ein röchelnder, schwarzer Schatten – den nur per Zufall Rosaura (Franziska Schubert) entdeckt: Ihr Pferd ist durchgegangen, sie gestürzt, und nun sucht sie mit Witzfigur Clarín, ihrem Diener (Guido Gallmann), einen Unterschlupf. Als die beiden ihre verdutzten Köpfe durch den Bühnenboden stecken, fällt erstmals Licht auf Sigismund. Der zu sprechen, stammeln, stöhnen beginnt.

Für diese düsteren Szenen hat Schuster seinem Sigismund einen Boxer-Mundschutz vor die Zähne gesetzt. Diese planmäßige Behinderung ist ziemlich boshaft, aber genial. Denn mit jener Mega-Spange muss Lampka höchst schwierige, philosophisch tiefgründige meterlange Monologe in metrisch reichen Versen rezitieren – die elegant-zeitgemäße Nachdichtung stammt vom Autorenkollektiv Soeren Voima, zu dem Regisseur Schuster selbst gehört. Die Klage klingt dadurch so rührend versehrt, so ungemein verletztlich als wäre er ein Mensch des 21. Jahrhunderts, auf der Suche nach Freiheit und Gerechtigkeit. Die’s nicht gibt. BENNO SCHIRRMEISTER

Weitere Vorstellungen: 29. 3, 4. und 14. 4., 19.30 Uhr, Bremen, Theater am Goetheplatz