Die Milljöh-Schilderung fürs Hier und Jetzt

Aus dem wunderbaren Alltag: Zwei neue Bücher präsentieren die Autoren der Berliner Lesebühnenszene

Mit dem Phänomen „Lesebühnen in Berlin“ werden sich vielleicht in den kommenden Jahren die Literatursoziologen beschäftigen, uns Zeitzeugen bleiben bis dahin nur schwache Erklärungsversuche. Ein Dutzend Lesebühnen gibt es in Berlin, sie heißen Chaussee der Enthusiasten, Reformbühne Heim und Welt oder Liebe statt Drogen. Die Surfpoeten gibt es schon seit 15 Jahren, die „Überflüssigen“ treffen sich seit ein paar Monaten.

Lesebühnenabende sind preiswerte Veranstaltungen, der Eintritt liegt unter 5 Euro, sie sind billiger als ein Kino- oder Konzertbesuch und vermitteln zudem das Gefühl, man habe sich geistreich unterhalten und nicht nur zum Trinken getroffen. Hauptkunde der Berliner Lesebühne ist der zugezogene amüsierwillige Student, die pseudoproletarische antiintellektuelle Grundhaltung der Lesebühnen steht im Gegensatz zum Getue an den Universitäten.

Lesebühnen-Autoren sind irgendwie typisch, echte Originale in Berliner Kellern und schummrigen Hinterzimmern und erzählen in echt Berliner Dialekt vom echten Leben. Die Lesebühne ist also „Zille sein Milljöh“ für das Hier und Jetzt, sie übernimmt durch ihren Beobachtungs- und Erzählwillen die Funktion der typischen Berlin-Figur „Nante der Eckensteher“. Hier wird keine Kunstproduktion vorgeführt, mit minimalem Formulierwillen und Aufwand kann eigentlich fast alles vorgelesen werden. Dabei tappen die Vortragenden oft in die Comedy-Falle. Es gibt auf einer Lesebühne einen unausgesprochenen Zwang lustig sein zu müssen, die Zuschauererwartung lauert auf einen Witz, zumindest auf eine Pointe. Das verführt dazu, auf Gags hin zu schreiben, was dem Text nicht immer gut tut.

Mittwochs zum Beispiel bei den Surfpoeten im Mudd Club sitzen über 100 Leute auf Bierbänken, trinken preiswerte Cocktails und unterhalten sich lautstark, bis die Herren Poeten beginnen. Wer Pech hat, sitzt dann direkt hinter einer leicht hysterischen Studentin, die bei jedem nur angedeuteten Witz in markerschütterndes Kichern verfällt. Ein großer Lacher ist das Wort „Fickfreundin“, auch wenn die Themenfelder „Bier trinken“ oder „betrunken sein“ berührt werden, bricht allgemeine Heiterkeit aus. Manche Geschichten sind langweilig, andere wirklich hübsch und interessant, immer wieder werden der Alltag und Stadt gefeiert: Beim Inder am Weinbergsweg picken die Spatzen ayurvedische Reiskörner auf, die Bratwurstverkäuferin im Treptower Park, die Ratten im Hinterhof. Das schafft ein Einverstandensein im Publikum, fördert ein Sich-Zurechtfinden in der Stadt: Den Inder kenn ich, in Treptow war ich schon, das ist auch meine Welt!

Beim Verlag Voland und Quist sind nun zwei Lesebühnenbücher erschienen. Bei Robert Webers Debütroman „Ich bin der Roman“ (128 S., 11,80 Euro, mit CD), muss man besorgt fragen, was in den Surfpoeten gefahren ist. In seinem Roman geht es hauptsächlich ums Saufen, In-Kotze-Aufwachen und Frauenabschleppen. Das hört sich erst einmal ganz interessant an, ist es aber leider überhaupt nicht. Ab seiner Hälfte entschließt sich der Roman dann Porno sein zu wollen, aber auch dieses Genre wird nicht ausgestaltet, die üblichen Stellungswechsel laufen immer gleich ab. Die eine liebt ihn, die andere will nur ficken und hat Bindungsängste, aber der superpotente Ich-Erzähler versucht natürlich alle Bedürfnisse zu befriedigen. Das Buch soll eine nächtliche Reise durch Berlin sein, aber Berlin kommt eigentlich gar nicht vor, der Roman wirkt sprachlich trist, grob konstruiert und somit leider nur auf ärgerliche Weise langweilig.

Die zweite Neuerscheinung „Die Surfpoeten“ (148 S., 12,80 Euro, mit CD), eine Anthologie der gleichnamigen Veranstaltung, ist wie ein Lesebühnenabend: Es gibt lustige Geschichten und langweilige, man hat bald seinen Lieblingsautor gefunden, die Zeit vergeht wie im Flug und zwischendurch hat man sogar mehrmals gelacht. Die Sammlung beginnt mit einer wirklich umwerfenden Geschichte von Spider: In der Agenda 2050 werden die Menschen zu Beziehungen gezwungen, Zumutbarkeitsklauseln für Partnerschaften werden drastisch verschärft. Die „Hitparade der Berufe“ von Ahne weist ein paar Längen auf, die Liebesgeschichte vom Transistor und der kleinen Leuchtdiode dagegen ist fast anrührend. CHRISTIANE RÖSINGER