PETER UNFRIED ÜBER CHARTSDIE CHARTS HEUTE MIT TELE, SUPERTRAMP, STEINMEIER, MICHAEL JACKSON, MILES DAVIS, TOBIAS LEHMKUHL UND EINEM KULTURELLEN DESASTER
: Das Ende der Diskurs-Pop-Quälerei ist da

Ich hatte Tommi so verstehen wollen, dass die Berliner Band Tele nach Supertramp klänge. Ach, dachte ich, „The Logical Song“, her damit. Er hat es anders gemeint, und die Band klingt auch ganz anders. Gut so.

Ob das neue Album „Jedes Tier“ der Soundtrack zur „Krise“ ist? Hängt auch davon ab, wie man sich als Hörer zu den anstehenden planetarischen Veränderungen positioniert. Ob ich darauf stehe, weil die aus Freiburg zugezogene Band die nie ganz angekommenen, aber ganz okay lebenden Berliner „Provinzflüchtlinge“ repräsentieren? Ach. Und das angedeutete „Politische“ kann ich auch von Steinmeier kriegen. Aber seien wir ehrlich: Wo gibt es denn heutzutage dermaßen entspannten deutschen Pop? Da fragt man sich schon, wozu man sich all die Jahre mit Diskurs-Pop abgequält hat. Tele sind Post-Diskurs, clever und sehr, sehr lässig. Bei „Cecile“ lohnt sich das Warten auf das musikalisch und textlich furiose Finale. „Im Radio“ beginnt mit einem Boomtown Ratesken Piano.Und „Mehr Mehr Mehr“ ist ein famoser Neo-Schlager.

Die absolute Nummer eins für mich als Neueinsteiger ist vom vorletzten Album „Wir brauchen nichts“. Der Song heißt „Bye Bye Berlin“. Während es, etwa, ganz Kreativ-Köln nach Berlin drängt, hat der Icherzähler mal wieder das Gefühl, aus Berlin weg zu müssen. Aber dann muss er doch nicht. Vermutlich geht es um das schwierige Leben heutzutage jenseits von Festanstellungen. Es ist aber nicht die kleine Geschichte, es sind die Gefühle, die beim Zuhören aus Musik, Atmosphäre, Silben und Wörtern entstehen. „Es ist Montag, nachts um 4 Uhr 10 / Ich kann riesige Buchstaben auf dem Mond sehen /Da steht // Bye Bye Berlin / Was soll da sonst stehen? / Bye Bye Berlin / Ich hab es kommen sehen /Bye Bye Berlin / Ich bin wie Luft in / Bye Bye Berlin.“

Am Ende singen alle. Die Vereinigten Staaten. Aldi und Lidl. Seeed und Bushido. Und ich.

„Bye Bye Berlin“ ist ein ganz großer Popsong.

„Human Nature“ vom Michael-Jackson-Album „Thriller“ ist auch in der Interpretation von Miles Davis sehr poppig, 80er-Jahre-Miles, da war er schon drüber hinaus. Aber der Song hat was, zumindest im Moment. Ich erinnerte mich an den Song nicht wegen des Todes von MJ, sondern beim Lesen einer neuen Biografie von Tobias Lehmkuhl: „Coolness. Über Miles Davis“ (Rogner & Bernhard, 167 Seiten, 16,80 Euro). Besonders schön ist Davis’ Idee, den Vietnamkrieg zu beenden, indem man superhübsche Blondinen hinschickt. „Wenn die Leute läsen, dass hundert von denen draufgegangen seien im Kampf mit dem Vietkong“, glaubte Davis, dann hätte „der Spuk sofort ein Ende.“

Da denke ich seither ernsthaft drüber nach.

„Bitches Brew“, Davis’ Klassiker von 1969, hörte ich mir in der Badewanne an. Nicht mein Cup of Tea, aber ich fühlte mich sehr arty, sophisticated, bohemistisch und so weiter. Hm, vielleicht würde ja etwas von der Coolness des Meisters auf mich abstrahlen.

PETER UNFRIED

CHARTSFragen zur Entspannungsmusik?kolumne@taz.de Morgen: betrachtet Arno Frank GESCHÖPFE