Die Nachbarn von Brokdorf

„Am Tag als Bobby Ewing starb“: Lars Jessens Kinodebüt spielt im ökologisch korrekten Milieu einer Provinzkommune in den 80ern. Der Regisseur ist selbst in einer solchen Kommune aufgewachsen. Eine Reise in seine Vergangenheit

von Daniel Wiese

Nein, so war das nicht, haben sie gesagt, als sie den Film gesehen haben. „Wir waren nicht so“, sagten die, die im Widerstand gegen Brokdorf ergraut sind. „So war das nicht“, sagten aber auch die, die im Film auf der anderen Seite stehen, so wie der Bürgermeister von Brokdorf. Der rief beim Aufnahmeleiter an: „Meine Tochter hatte nie was mit jemandem aus der Kommune.“

„Ich wusste gar nicht, dass der Bürgermeister eine Tochter hat“, sagt Lars Jessen und grinst. Wir sitzen in einem alten VW-Bus, 250.000 Kilometer auf dem Tacho, und fahren Richtung Dithmarschen. Dithmarschen liegt in der Nähe von Brokdorf, Lars Jessen ist dort aufgewachsen, in einer Landkommune, genau wie in seinem Film. „Ich teilte mein Zimmer mit einem schwer erziehbaren 17-jährigen Jugendlichen, der zu AC/DC Luftgitarre spielte.“ Lars Jessen schüttelt den Kopf, ungläubig. Aber doch, so war es.

„Am Tag, als Bobby Ewing starb“, so heißt der Film von Lars Jessen, der nächste Woche in die Kinos kommt. Er handelt von einem Jugendlichen, der mit seiner Mutter in eine Landkommune bei Brokdorf zieht. Es ist die Zeit der großen Demos, in der Landkommune baden sie nackt in einem Bottich, manchmal versammeln sie sich in einem Raum und schreien. Es gibt eine Szene, da ist der Junge, er heißt Niels, auch dabei. Am Schluss schreit nur noch er. Alle schauen ihn an, und er schreit und schreit. Es ist, als würde er nie mehr aufhören zu schreien.

Der VW-Bus tuckert über eine Brücke, irgendwo am Horizont, sagt Jessen, könne man die Silhouette von Brokdorf erkennen. Am Bauzaun von Brokdorf hat er nie gerüttelt, auch zu den Demos durfte er nicht mit, zu jung. Er erinnert sich aber noch genau, wie es war, als sie hinzogen. „Meine Mutter hat sich bei einem Schrei-Seminar in den Herrn verliebt, den du gleich kennen lernen wirst. Sie kam heiser nach Hause und sagte,“ jetzt imitiert er die heisere Stimme seiner Mutter: „Wir ziehen nach Dithmarschen.“

Wenn Lars Jessen an die drei Jahre denkt, die er da gelebt hat, erinnert er sich an Erwachsene, die total durcheinander waren. „Die konnten mit der Freiheit nicht umgehen, die sie sich da genommen hatten. Als Kind war das für mich natürlich furchtbar.“

Nun ist das Letzte, was Lars Jessen will, 68er-Bashing zu betreiben. Das wäre zu einfach, schließlich, findet er, haben die Leute was geleistet. In seinem Film wirken sie eher selbst wie Kinder, die ein bisschen verwirrt sind. Und dann kommt die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl, genau an dem Tag, als Bobby Ewing im Fernsehen stirbt, und plötzlich sind alle gegen Atomkraft, und der Oberguru in der Kommune dreht durch.

Im Film wird der Oberguru von Peter Lohmeyer mit langen Haaren gespielt, aber es gab da tatsächlich jemanden, eben den Mann, in den sich die Mutter von Lars Jessen verliebt hatte. Der VW-Bus fährt durch Dithmarschen, roter Klinker, auf fetten Wiesen weiden Schafe, es riecht nach Land.

„Meine Mutter wird auch da sein“, hatte Lars Jessen angekündigt. Seine Mutter heißt Elke Müller-Stahl, ja, der Name, sagt sie, die Frage kennt sie, der Schauspieler Armin Müller-Stahl ist ein angeheirateter Cousin. Die Tür geht auf, ein Hund bellt, drinnen steht George Pauly, er ist es, den wir besuchen. George steckt in einem Arbeitsoverall, sein graues Haar ist zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Er raucht gelbe Zigaretten.

„Mensch“, sagt Elke Müller-Stahl, „ich weiß noch genau, an welcher Treppe ich dich das erste Mal gesehen hab‘“, sie lächelt. Sie haben zusammen Erzieher gelernt, damals in Kiel, und den Schreikurs gab es tatsächlich, es ein Selbsterfahrungsseminiar in Dänemark, da haben sie Reisfasten gemacht. Kein Kaffee mehr, keine Zigaretten, mit Meditation und Todeserfahrung. „Es war“, sagt George „eine ganz besondere Intensität.“

Fast alle Bewohner der Kommune waren auf dem Seminar, wobei: „Kommune haben wir nie gesagt“, George zieht an seiner gelben Zigarette. „Für das Dorf waren wir die Kommune. Wir haben ‚Kollektiv‘ gesagt.“

Sie hatten einen Traum mit ihrem Kollektiv. Für den Traum haben sie gekämpft, mit den Gerichten, mit dem Jugendamt. Sie wollten die Jugendlichen rausholen aus den Heimen, aus dem Kreislauf in den Knast. Die Jugendlichen haben bei ihnen gewohnt, der Name des Projekts war „Alternative zur institutionellen Heimerziehung e. V.“. „Damit meld‘ dich mal am Telefon“, sagt George.

Es war ein Traum, „aber geschafft haben wir es überhaupt nicht“, sagt Elke Müller-Stahl. „Wir hatten unterschätzt, wie viel Arbeit das war“, sagt George. Und dass alle gute Laune und die ganzen Konzepte nichts nutzen, wenn das System weiterläuft.“

Trotzdem, finden beide, findet sogar Lars Jessen, war nicht alles falsch. Elke Müller-Stahl arbeitet inwzsichen als Kindertagesstättenleiterin, „da versuch ich auch, Erfahrungen, die ich gemacht hab‘, in meiner Arbeit unterzubringen“. George Pauly tritt auf mittelalterlichen Jahrmärkten auf, in Nachtkleid und Schlafmütze. Bei seinen Auftritten nennt er sich „Armleuchter“: „Ich bringe den Leuten das Licht, weil ich immer noch Ideen nach außen tragen will.“ „Armleuchter“ hat er auch in seinem Personalausweis eintragen lassen, als Künstlernamen.

Das Ende von „Am Tag, als Bobby Ewing starb“ geht so, dass der Oberguru plötzlich weg ist, verschwunden nach Spanien. George ist geblieben, das Kollektiv ist jetzt eine WG, aber noch immer sind auch alte Menschen dabei, um die sie sich kümmern. So wie früher, so wie im Film. „Es war eine tolle Erfahrung für mich und auch für Lars, mit dem alten Mann zusammenzuleben“. sagt Elke Müller-Stahl. Lars sagt: „Darum geht es auch in meinem Film. Da geht es um Leute, die sich alle zu viel vorgenommen haben.“

Möglich, dass die Erinnerungen nie ganz konvergieren werden. Was für die Eltern der Traum war, haben sich die Kinder nie ausgesucht. „Da hinten am Horizont, da ist Brokdorf, kannst du es sehen?“, fragt Lars auf der Rückfahrt. Am Horizont ist nichts, bloß Dunst. „Wahrscheinlich muss man es kennen, um es zu sehen“, sagt Lars Jessen.