Der Love Parade voraus

Wie hat sich der Kirchentag in den letzten 50 Jahren entwickelt? Pastor und Liturgik-Prof Joachim Stalmann war dabei

Der Bruch kam 1973 in Düsseldorf. „Die Leute hatten das Agitieren und die rationale Überfrachtung leid“, sagt Joachim Stalmann, der damals gerade in der Arbeitsstelle für Gottesdienst und Kirchenmusik der Landeskirche in Hannover angefangen hatte. Stalmann hatte sie noch gut im Ohr, die Diskussionsrunden, die Protestlieder der Friedensbewegung und Abendmahl-Sätze wie: „Lasset uns trinken auf die Humanisierung des Strafrechts“. Das waren die 1960er Jahre. Nun aber, 1973, kamen gerade mal 7.420 Dauerteilnehmende zum Kirchentag nach Düsseldorf – Minusrekord.

Also probierte man etwas neues, zum Beispiel: die liturgische Nacht mit Gospel, Jazz und Pop neben traditioneller Kirchenmusik. „Das war die Wende weg vom politischen Diskurs hin zum Meditativen und zum Feiern“, sagt Stalmann. „Man hat damals gelernt, die Gemeinschaftsformen wieder ernst zu nehmen.“ Prompt nahm die Besucherzahl 1975 in Frankfurt wieder zu.

Joachim Stalmann ist ein „Kirchentags-Fossil“. Das sagt der 73-Jährige selbst von sich, weil er etliche Kirchentage erlebt hat, als Besucher, Mitorganisator oder zumindest aus der Ferne, als Hörer am Transistor-Radio. Stalmann ist Musikwissenschaftler und Theologe, hat lange als Gemeindepastor auf dem niedersächsischen Land gearbeitet, später das Feierabendmahl mitentwickelt und als Professor für Liturgik in Bremen unterrichtet. Gleichzeitig engagierte sich Joachim Stalmann in der SPD und hätte es gerne gesehen, wenn seinerzeit aus der linken Gesamtdeutschen Volkspartei etwas geworden wäre.

Das Verhältnis von liturgischer Feier und Politik ist für Stalmann über die Jahre zur zentralen Frage der der Kirchentage geworden. Der Liturgik-Spezialist kennt beides: die politikferne volkskirchliche Euphorie der 1950er Jahre, als man beim Abschlussgottesdienst die Pause im Dauerregen als Gottes schützende Hand interpretierte und die politischen Hochphasen, als Bundesverteidigungsminister Hans Apel 1981 in Hamburg mit Eiern beworfen wurde. „Toleranz mit Deutlichkeit zu verbinden, das hat der Kirchentag erst im Verlauf der 1980er Jahre gelernt“, sagt Stalmann. „Es ist ein Dreh- und Angelpunkt der Kirchentage geworden, dass es Höhepunkte des Feierns gibt, die aber die Politik nicht ausschließen.“

Soweit ist Stalmann zufrieden mit der Entwicklung. Allerdings, andere, neue Baustelle: „Das Hallenüberfüllungsphänomen könnte dem Kirchentag den Gar ausmachen. Die Stars sind ein Hauptanziehungspunkt geworden. Aber es ist wichtig, dass die zahlreichen Kleinveranstal-tungen auch ernst genommen werden.“

Und die Prognose für die Politik in Hannover? „Der jetzige Kirchentag ist sicher amerikakritisch. Da werden Sie harte Worte gegen Bush hören.“ Gleichzeitig weiß der Pastor auch, dass es für die große Kirchentagsklientel, die Jugend, neben den spirituellen und politischen Erlebnissen ein drittes gibt: „Ich möchte nicht wissen, wie viele Ehen und Lebensgemeinschaften sich da angebahnt haben.“ Man liege auf der Wiese und trinke Coca Cola, das war schon 1967 in Hannover so. Allerdings: „Mit Pfandflaschen. Plastikgeschirr wurde geächtet. Da ist der Kirchentag der Love Parade meilenweit voraus.“

Klaus Irler