Hören mit den Eingeweiden

KRACH Der Noise-Musiker Daniel Menche begeistert im West Germany mit strukturiertem Chaos. Seine Klangexperimente gehen unter die Haut

Tief brummende Drones massieren von unterhalb des Bodens den Verdauungstrakt

Der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño erzählt in seinem Roman „Die wilden Detektive“ von einer mexikanischen Dichtergruppe, die sich dem „viszeralen Realismus“ verschrieben hat. Ein Name, der im Deutschen ziemlich exotisch klingt, dabei geht es beim Wort „viszeral“ bloß um die Eingeweide: eine Literatur, die wahlweise auf den Magen schlägt, an die Nieren geht oder eben einfach „reinhaut“.

Wenn es eine musikalische Entsprechung dieser fiktiven Literaturrichtung gäbe, dann könnte man den Musiker Daniel Menche locker dazuzählen. Der Noise-Experimentator aus Portland machte am Mittwoch im West Germany vor, wie man mit Lärm körperliche Wirkung erzielt, ohne dabei zu ermüden.

Menche ist ein rastloser Geräuschesammler. Für ein Album reiste er die nordamerikanische Pazifikküste rauf und runter, um die Klänge von Wasserfällen aufzunehmen, aus denen er dann eine Suite des Rauschens schuf. Auf seiner aktuellen Platte, passenderweise „Guts“ – Eingeweide – betitelt, bearbeitete er energisch die freigelegten Innereien eines Klaviers, also den Metallrahmen, an dem die Saiten festgespannt sind. Als Ausgangsmaterial ist ihm fast alles recht, was tönt. Bei seinem Auftritt im gut gefüllten West Germany dienten ihm Metallobjekte wie Klangschalen oder ein mit Kontakten versehener Stab als Arbeitsgrundlage. Auf denen hämmerte, klopfte oder rieb er unermüdlich herum, um die Geräusche anschließend durch diverse Effektpedale zu schicken, bis sie sich zu fast undurchdringlichen Gebirgen auftürmten.

Noise setzt immer auf irgendeine Form der Überforderung des Publikums. Seien es schrille Frequenzen aus Rückkopplungen, die scheinbar von unterhalb des Bodens den Verdauungstrakt massierenden tiefbrummenden Drones oder die berühmte Wall of Sound – in der Regel verfolgt diese Musik das Ziel, direkten Kurs auf den Körper als Resonanzraum zu nehmen: ein Hören mit den Eingeweiden. Über die Jahre haben sich die Strategien selbst bei solch frontalen Angriffen auf die Hörer verfeinert, die Ansätze wurden subtiler oder ausdifferenzierter. Und auch bei Menche bekommt man nicht einfach einen Schlag in die Magengrube, sondern wird mit sicherer Hand durch das Getöse geführt.

Man meint zwar die meiste Zeit über, dass aus allen Richtungen Signale auf einen einprasseln, doch sie haben eine Bewegung, wechseln Farbe und Dichtegrad, sodass der Krach nicht als monolithischer Block allmählich zu stehen kommt, sondern weiter an Fahrt gewinnt.

Dazu ist es durchaus unterhaltsam, Menche bei der Arbeit zuzusehen. Der ungefähr 1,90 Meter große Musiker schleudert gern seine langen roten Haare durch die Gegend wie ein schüchterner Heavy-Metal-Fan, der sich das mit dem Headbangen nicht traut. Zwischendurch schreit er gegen seine eigenen Klangkaskaden an – ohne Mikrofon, was in seiner unfreiwilligen Komik auch etwas leicht Beunruhigendes hat: Weiß er in so einem Moment, was er da tut? An anderer Stelle hebt er beide Arme wie bei einem spirituellen Ritual und hält dazu seinen Metallstab hoch wie ein Schwert.

Trotz Gesten wie dieser beschwört Menche mit seiner Inszenierung keine eindeutig okkultistischen Inhalte herauf. Wenn hier etwas angerufen wird, dann ist es höchstens die Natur selbst, die in rasend schnell durchlaufenden Schwarzweißfotos auf der Leinwand hinter ihm zu sehen ist. Baumstämme oder Steine in unterschiedlichen Grauschattierungen, so kurz hintereinander, dass man nur erahnt, was gerade gezeigt wird. Nach einer hoch konzentrierten halben Stunde ist alles vorüber, das mehrheitlich schwarz gewandete Publikum ist zufrieden.

Vor Menche hatte der in Berlin lebende Schweizer Klangkünstler Joke Lanz für die dadaistische Performance seines Projekts Sudden Infant in gerade einmal 25 Minuten einen anderen Aspekt von Körpermusik ins Spiel gebracht: Neben Pistolenschüssen, brachialen elektronischen Bässen und gelegentlichem Pfeifen diente ihm die eigene Stirn als Klangquelle. Mit der schlug er so oft gegen das Mikrofon, bis sich dort ein roter Fleck bildete.

Statt von der Natur inspirierter Klangflächen bot er rumpelnde Loops und eine herausgebrüllte Kritik an der Lage heutiger Familien. Das ging auf seine Weise auch unter die Haut. TIM CASPAR BOEHME

■ Daniel Menche: „Guts“ (Editions Mego)