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Angriffe auf das Selbstbild

Johannes Franzen hat eine Theorie dazu, warum Geschmacksurteile verletzen können

Von Michael Wolf

Es heißt, über Geschmack lasse sich schlecht streiten, doch hält die deutsche Sprache eine Vielzahl an Floskeln vor, die auf das genaue Gegenteil hindeuten. Wendungen wie „Jedem Tierchen sein Pläsierchen“, „Leben und leben lassen“ oder „Ich mag das halt“ wären ja gar nicht notwendig, wenn die eigenen ästhetischen Vorlieben nicht immer wieder in Konflikt mit denen anderer träten.

All das sind nur Beschwichtigungsversuche in einem ständigen Wettstreit. Denn Präferenzen für bestimmte Musik, Kunst, Bücher, Filme oder Serien ergeben keine neutral betrachteten Eigenschaften, sondern entscheiden mit über kulturelles und soziales Kapital. Mit dem Verweis auf das zutiefst Private („So bin ich nun einmal“) flüchtet man (meist erfolglos) vor dieser Auseinandersetzung, zieht sich in sein Ich zurück, hoffend, dass die Kritiker dort draußen von einer Belagerung absehen.

Nicht nur der Status einer Person, etwa ihre Stellung in einer Schulklasse, im Freundeskreis oder im Büro, sondern auch das eigene Selbstbild steht zur Disposition, können ästhetische Neigungen doch sehr stark identitätsstiftend und mit tiefen Emotionen verbunden sein. „Wenn jemand unseren Geschmack öffentlich angreift, dann wirkt das deshalb so verletzend, weil wir es als Angriff auf unsere existentielle Selbsterzählung wahrnehmen“, schreibt Johannes Franzen.

Der Siegener Literaturwissenschaftler beantwortet in seinem Buch „Wut und Wertung“ die Frage, warum die private und öffentliche Kommunikation über Kunst so oft entgleist, warum sie anfällig für Streit und Skandale ist. Der Grund finde sich, kurz gesagt, in ebendieser Doppelfunktion des Ästhetischen: Sie spielt eine große Rolle für das Selbstverständnis einer Person und ist zugleich eine gesellschaftliche Arena, in der die „feinen Unterschiede“ ausgespielt werden wollen.

Wie sehr Verletzungen in solchen Auseinandersetzungen schmerzen können, zeigt sich am Beispiel des US-Autors Jonathan Franzen. Vor Erscheinen seines Familienromans „Die Korrekturen“ hatte dieser einiges an kulturellem Kapital mit anspruchsvollen, aber erfolglosen Büchern angehäuft. Nun befand er sich, da Talkmasterin Oprah Winfrey ihn zu ihrem berühmten Book Club einlud, in einer sehr verunsichernden Lage: Er wusste, dass er bald Millionär sein würde, aber auch, dass er seine Freunde, Mitstreiter und Leser in avantgardistischen Kreisen verlieren würde. Finanziell mochte seine literarische Neuerfindung einem Lotto­gewinn gleichkommen, sozial und in Bezug auf sein kulturelles Kapital hingegen stand ein Totalbankrott zu Buche.

Johannes Franzen:„Wut und Wertung. Warum wir über Geschmack streiten“. S. Fischer, Frankfurt am Main 2024, 432 Seiten, 26 Euro

Anhand solcher Beispiele führt Johannes Franzen in locker­ verbundenen Kapiteln aus, wie Kunst für Disharmonie, Streit, ja mitunter heftige Aggressionen sorgt. Es geht um den Hass auf „Effi Briest“; um Dynamiken, in denen schlechte Filme Kult werden; um die Lust am Verriss und um Schüler, die ihrem ästhetischen Konservativismus zum Opfer fallen.

Auch der Fankultur widmet sich der Autor eingehend und vielleicht etwas zu wohlwollend. Zwar erreichen Fragen nach Autonomie und Urheberschaft eine neue Dringlichkeit, wenn Fans durch kollektive Willensbekundungen, Fanfiction oder performative Aneignungen an der ­Gestaltung eines Kunstwerks teilhaben, sich also nicht mehr mit der Rezeption zufriedengeben, sondern auch die Produktion entscheidend mitprägen. Doch ist Streit um ästhetische Themen eben auch deutlich interessanter, wenn er von Per­sonen geführt wird, denen, anders als Fans, eine ­Abstraktion von den eigenen Gefühlen möglich ist, die tatsächlich Vorlieben haben und nicht vollständige Liebhaber sind. Den Dünkel, das Fantum fördere defizitäre Rezep­tionsweisen, kann der Autor jedenfalls mit seinen Beispielen impulsiver und distanzloser Anhänger von Popstars oder Kulturprodukten nicht gänzlich aus der Welt schaffen.

Franzen führt aus, wie Kunst für Streit und mitunter heftige Aggressionen sorgt

Der größte Einwand gegen dieses Buch aber betrifft seinen diffusen Kunstbegriff. Anstatt eine klare Definition zu liefern, verweist Franzen zu Beginn darauf, dass gerade die Frage danach, was und wer dieses Gütesiegel verdient habe, ein zentraler Streitpunkt in ästhetischen Debatten sei. Schön und gut, aber die begriffliche Unentschiedenheit läuft darauf hinaus, dass dieses Buch eigentlich nicht von Kunst, sondern generell von Geschmack handelt, ein Konzept mit deutlich mehr Anwendungsfällen. Warum aber hantiert der Autor dann mit den Begriffen ästhetischer Theorien?

Und warum geht es dann überhaupt so viel um Bücher, Serien, Filme und Musik und nicht ebenfalls um Mode, Essgewohnheiten oder überhaupt um Konsum- und Freizeitverhalten? Auch auf Mercedesfahrer, Veganer oder Hobbyjäger trifft doch zu, dass ihre Entscheidungen zugleich identitätsstiftend und sozial relevant sind sowie für viele Menschen diskutabel erscheinen. Womöglich sind die von Franzen dargestellten Phänomene gar nicht akkurat zu beschreiben, wenn man nur Kulturprodukte untersucht, sondern erfordern einen weiteren Blick. Etwas weniger Literaturwissenschaft und etwas mehr Soziologie hätte dem Buch in jedem Falle gutgetan.

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