: Keimzellen einer radikalen Solidarität
In Asylsuchenden sehen heute viele nur noch eine Belastung. Dabei fordern sie uns zu einer Demokratisierung der Strukturen auf, wie Johannes Siegmund im Essay „Tausend Archen“ zeigt
Von Björn Hayer
Auch wenn sie immer mehr politische Akteure in diesen Tagen zu Tätern erklären wollen, sind sie de facto Opfer – von Krieg und Rassismus oder auch den Folgen eines entfesselten Kapitalismus. So hatte auch Hannah Arendt, unmittelbar geprägt durch die Judenverfolgung im „Dritten Reich“, die politischen Flüchtlinge gesehen. Dass die Denkerin jene, die Schutz und Hilfe in der Ferne suchen, auch zu „viktimisieren“ neigte, motiviert Johannes Siegmund in seinem Essay „Tausend Arche“ zu einer Neubetrachtung der Gruppe, eine, die gerade auch unser Selbstverständnis von Identität und Volk herausfordert. Denn der Flüchtling erweist sich bei ihm als eine reflexive Figur. Er „erzeugt Panik, weil er den Nationalstaat und damit die politische Grundordnung der modernen Welt infrage stellt“.
Ganz neu erscheint diese Beobachtung nicht, die im Buch anhand vieler Beispiele belegt wird und – in ungeahnter Zuspitzung – die alltäglichen Debatten bestimmt. Gleichwohl ruft die Perspektive des Autors auf die Flüchtlinge als aktivistische Subjekte eine positive Irritation hervor. Dazu lehnt er sich an den Philosophen Étienne Balibar an. Dieser bewertete etwa die Bewegung der Sans-Papiers, also der Ankommenden ohne Ausweisdokumente, als eine Lehrstunde in Sachen Demokratie. Für Siegmund sind derlei Protestbekundungen der Einwanderer sogar ein revolutionärer Auftakt, für dessen Gelingen diverse Beispiele aus der Geschichte sprechen.
Etwa die Odyssee des Schiffs „Exodus 47“, mit dem 5.000 Jüdinnen und Juden zwei Jahre nach Kriegsende aus den europäischen Lagern nach Palästina aufbrachen, aber militärisch von der britischen Marine gestoppt wurden. Es folgte ein längerer Aufenthalt in Frankreich, bis die Passagiere letztlich zurück nach Deutschland transportiert wurden. Obwohl sie scheiterten, haben sie durch ihren Widerstand, nicht von Bord gehen zu wollen, eine Öffentlichkeit erzeugt, die insbesondere die liberalen Rechtsstaaten massiv unter Druck setzte. Ähnliches sieht Siegmund in dem Marsch zahlreicher Flüchtlinge aus dem Nahen Osten im Jahr 2015, mündend in deren allbekannter Aufnahme in Deutschland.
Indem sie Zeichen setzen, behaupten sie sich als politische Subjekte und bewirken, so die visionäre Wendung des Essays, bestenfalls eine systemische Erneuerung. Neben dem schlechten Zeugnis, das sie mit der Flucht ihrem Herkunftsland ausstellen, könnten sie ihre Ankunftsnation insbesondere zu einer Ausweitung demokratischer Strukturen beitragen. Immer wieder wird in „Tausend Archen“ deutlich, dass der zivile Ungehorsam der zu uns Kommenden – vom Wegätzen der Fingerkuppel bis hin zu Streiks und Straßendemonstrationen – zu einer Stärkung von Netzwerken, mitunter von NGOs, Parteien und Ehrenämtler:innen, führt.
Johannes Siegmund: „Tausend Archen. Flucht als politische Handlung“. Wagenbach Verlag, Berlin 2024. 176 Seiten, 20 Euro
Er ist die Keimzelle für eine „radikale Solidarität“, für den Entwurf einer Zukunft ohne Grenzen: „So utopisch das klingen mag, Teile dieser Welt sind bereits zu finden. In den Netzwerken der Flüchtenden werden Wissen und Ressourcen geteilt, während solidarische Bewegungen an den Grenzen die Infrastrukturen des Überlebens bereitstellen.“
Angesichts des aktuellen Diskursklimas, in dem selbst linke Kräfte die Migration als Grund allen Übels auszumachen versuchen, mögen nur wenige das Gute, ja die Zeichen von Weltoffenheit und Zusammenhalt in den westlichen Gesellschaften wahrnehmen. Und doch ist es da, allen voran in längst transnational operierenden Organisationsformen. Exakt darauf den Fokus zu lenken dürfte sich lohnen, so die Hauptbotschaft dieses engagierten Essays, das zu keinem besseren Zeitpunkt hätte erscheinen können.
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