„Das Machtbedürfnis ist per se unstillbar“

Nach der Neuwahl droht vielen Politikern Machtverlust. Ihr Selbstwertgefühl tendiert gegen null. Managementberater Uwe Böning weiß Rat

taz: Herr Böning, viele SPD-Politiker dürften nach der Wahl ihren Posten verlieren. Das macht Angst. Ein Fall für den Coach?

Uwe Böning: Die Abgeordneten und Minister stehen unter einem enormen emotionalen Stress. Ihr Selbstwertgefühl wird stark belastet. Sie alle fragen sich jetzt: Wie geht meine berufliche und persönliche Entwicklung weiter?

Die meisten Politiker sind Meister des Networking. Da müsste sich doch bald eine neue wichtige Position finden?

Zwischen der politischen Elite und der mittleren Ebene gibt es einen deutlichen Unterschied. Das ist wie in jedem Unternehmen. Die Top-Manager kennen sich untereinander persönlich – und finden daher leichter wieder eine neue Aufgabe. Bei den weniger wichtigen Leuten hingegen bröckeln die Netzwerke, sobald sie ihre Position verlieren.

Als Berater würden Sie also lieber Gesundheitsministerin Schmidt betreuen?

(lacht) Könnte sein.

Aber wieso ist der Stress so groß? Die meisten Politiker kommen doch aus dem öffentlichen Dienst und können dahin zurückkehren.

Der Verlust der Macht, der eigenen Bedeutung und des politischen Einflusses muss verarbeitet werden. Man wird als Politiker nicht automatisch umso zufriedener, je weiter man aufsteigt. Die SPD-Abgeordneten sitzen da nicht zurückgelehnt und denken sich, dass sieben Jahre Bundestag sowieso genug sind. Das Machtbedürfnis ist per se unstillbar – genauso wie die Bedürfnisse nach persönlicher Bedeutung und politischer Gestaltung. Jeder politischer Erfolg, auch jede Niederlage, erzeugt das Gefühl, dass man noch mehr umsetzen will.

Wie lange wird die Trauerphase dauern?

Meistens brauchen die Menschen sechs bis neun Monate, um einen Abstieg zu verwinden.

Wenn viele Abgeordnete mit sich selbst beschäftigt sind – was wird aus dem Wahlkampf?

Es dürfte zu zwei gegensätzlichen Reaktionen kommen. Viele Abgeordnete werden erst recht kämpfen. Gerade weil sie momentan keine Perspektive sehen, stürzen sie sich auf die einzige Perspektive, die sie haben: den Wahlkampf. Durch den gemeinsamen Kampf gewinnen sie auch wieder Respekt und Selbstachtung. Einige wenige werden sich entmutigt zurückhalten.

Das klingt sehr passiv. Könnten sich die Demoralisierten nicht an Schröder rächen?

Unwahrscheinlich. Der erste Impuls wird Solidarität und Trotz sein, denn Schröder bietet ja einen Entscheidungskampf an, in dem es mit ganzer Wucht gegen einen politischen Gegner geht.

Aber die Debatte brodelt schon in der SPD; erste Linke verweigern den Gehorsam.

Trotzdem dürften sich die meisten vor der Wahl diszipliniert verhalten. Die großen Auseinandersetzungen sind nach der Niederlage zu erwarten.

INTERVIEW: ULRIKE HERRMANN