Favoritenrolle wegmoderiert: Das neue Wording beim THW Kiel
Der Deutsche Handball-Rekordmeister übt sich in Bescheidenheit. Die Champions League scheint jedoch eher erreichbar als in der verkorksten Vorsaison.
Das ist ein Zugeständnis an die Bedürfnisse und Lebensgewohnheiten der neuen Spielergeneration und insofern eine sinnvolle Anpassung seiner Arbeitsweise. Jicha hat Lehren aus der schwachen Vorsaison gezogen. Die Spieler auszupressen und an seinem eigenen Arbeitsethos zu messen, funktioniert nicht mehr – der THW stürzte in der Tabelle ab, blieb titellos.
Nun hat Jicha Druck herausgenommen und spricht stattdessen von der Entwicklung seiner jungen Mannschaft, was insofern putzig ist, als die Säulen Andreas Wolff, Domagoj Duvnjak, Patrick Wiencek und Hendrik Pekeler allesamt Ü30-Spieler sind. Was will er da noch entwickeln? Welchen Prozess anstoßen?
Zum frischen Kieler Wording gehört ebenso, quasi die gesamte Konkurrenz zu unerreichbaren Favoriten zu erklären: Flensburg, Magdeburg, Berlin, auch Melsungen – alle mindestens so aussichtsreiche Anwärter auf Glänzendes wie der THW selbst. Dieses kuriose Understatement eines 13-Millionen-Euro-Unternehmens führte bei der Saisoneröffnungs-Pressekonferenz dazu, dass Aufsichtsratschef Marc Weinstock von einem Champions-League-Platz als Saisonziel und finanzieller Notwendigkeit sprach, während die tiefstapelnden Jicha und Geschäftsführer Viktor Szilagyi in ihren Stühlen immer kleiner wurden.
Sportchef und Trainer schlagen eher leise Töne an
In internen Gesprächen werden die beiden Freunde nichts weniger als Rang eins oder zwei als zulässig geltend gemacht haben, was die Qualifikation für die Königsklasse beinhaltet. Aber es wird von ihnen eben nicht mehr herausposaunt. Und auch die Profis haben das „von Spiel zu Spiel denken“ als neue Marschroute entdeckt – zumindest für die Öffentlichkeit.
Dass es sich im Windschatten der Konkurrenz gut fahren lässt, beweisen die vergangenen Wochen. Durch Verletzungen geplagt, spielt seit Saisonbeginn praktisch eine Rückraumreihe durch – neben Duvnjak Emil Madsen und Eric Johansson Johansson. Der Däne Madsen macht es in seinen ersten Kieler Wochen hervorragend, der Schwede Johansson sowieso; er ist der beste Transfergriff der Kieler seit Jahren. Und Duvnjak, der Vorzeigeprofi, ist unersetzbar, nach innen wie außen.
Mit einem Sieg bei Meister Magdeburg und zwei Erfolgen beim HSV Hamburg im Pokal und nun auch am Freitagabend mit einem souveränen 31:25 in der Liga hat der THW die frühen Niederlagen bei den Rhein-Neckar Löwen und gegen Melsungen zwar nicht ungeschehen gemacht. Die Kieler haben die Serie 2024/25 aber besser begonnen, als viele befürchtet hatten. Vor Rückschlägen wie in der Vorsaison wirkt der manchmal launische THW nicht gefeit. Doch insgesamt scheint da mehr Stabilität zu sein als zuletzt.
Natürlich hilft Andreas Wolff im Tor sehr; ihn im Sommer als eine Art Notfallmedizin aus dem polnischen Kielce nach Kiel zurückzuholen, war eine Leistung Szilagyis – der allerdings auch unter Druck stand, nach dem schlimmen 18:30 im Champions-League-Halbfinale gegen Barcelona etwas zu unternehmen. Zu schwach war Kiel auf der Torhüterposition besetzt, wobei es auch ungerecht ist, dem Gespann aus Tomáš Mrkva und Samir Bellahcene alle Schuld an der enttäuschenden Saison zu geben. Als Nummer zwei hinter Wolff spielt Mrkva bisher gut. Und im nächsten Jahr, wenn Gonzalo Pérez aus Barcelona kommt, dürfte der THW zumindest nominell das beste Gespann im europäischen Spitzenhandball haben – und das teuerste.
Es ist wie so häufig – wer die „alten Kieler“ abschreibt, macht einen Fehler. Natürlich müssen Jicha und Szilagyi den Verjüngungsprozess vorantreiben, hier sei das Wort „Prozess“ gestattet. Und mit Madsen im Rückraum sowie dem verletzten Elias Ellefsen á Skipagøtu tun sie es auch oder haben es schon getan. In dieser Mannschaft stecken genug Erfahrung und Können, um um alle Titel mitzuspielen und im nächsten Jahr nicht noch einmal in der kleinen und wenig attraktiven European League antreten zu müssen, sondern standesgemäß in der Champions League.
Die Geschichte vom Machtwechsel von Kiel zu Magdeburg sollte man also noch eine Weile in der Schublade behalten. Der SCM hat am Sonnabend zwar Tabellenführer Flensburg in dessen Halle mit 29:27 niedergerungen. Die Magdeburger kämpfen aber mit Verletzungen, mentaler Müdigkeit und den Strapazen vieler Wettbewerbe. Zuletzt ließen sie viel Kraft bei der Klub-WM in Ägypten, deren Finale sie knapp gegen den ungarischen Meister Veszprem verloren.
Der THW wird nach Rückkehr der Maladen auch deswegen im Vorteil sein, weil er eben europäisch nicht in der Meister-Runde spielt. Vielleicht also endet die „Entwicklung“ dieser erfahrenen Mannschaft im Juni 2025 doch wieder mit Feierlichkeiten vor dem Kieler Rathaus.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!