„Schlepperrouten verlagern sich schnell“

Zurückweisungen an der deutschen Grenze seien kaum umsetzbar, sagt Migrationsforscherin Kohlenberger

Interview Florian Bayer

taz: Frau Kohlenberger, die deutsche Bundesregierung will Mi­gran­t:in­nen direkt von der Grenze zurückweisen. Ist das überhaupt umsetzbar?

Judith Kohlenberger: Die Binnengrenzen stehen ja nicht sperrangelweit offen. Seit 2023 etwa gibt es Kontrollen an den deutschen Grenzen zu Polen und zu Tschechien, die dürfen laut EU-Recht aber nicht dauerhaft sein. Vor diesem Hintergrund ist der Vorstoß keine radikale Kehrtwende. Abgesehen von der fehlenden Rechtmäßigkeit wäre das ein Kraftakt mit überschaubarem Effekt: Wir wissen aus der Migrationsforschung, dass sich Schlepperrouten schnell verlagern, meist auf gefährlichere Wege. 3.900 Kilometer Grenze zu kontrollieren ist kaum möglich.

taz: Österreichs Innenminister Gerald Karner hat angekündigt, zurückgewiesene Personen nicht aufzunehmen.

Kohlenberger: Solche Alleingänge, wie ihn Deutschland angekündigt hat, konterkarieren alle europäischen Anstrengungen. Erst kürzlich gab es die EU-weite Einigung auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Deutschland hat zugestimmt, weicht nun auf nationaler Ebene ab.

taz: Was würde eine Umsetzung für Österreich bedeuten?

Kohlenberger: Zurückgewiesen würden vor allem Menschen, die bereits in einem anderen EU-Land registriert wurden. Das ist in den seltensten Fällen Österreich. Schlimmstenfalls könnte es zu einem Pingpongspiel kommen, also einem Hin- und Herschieben, ähnlich wie an der polnisch-belarussischen Grenze.

taz: Könnte es einen Dominoeffekt geben, wenn Österreich Mi­gran­t:in­nen nach Ungarn oder Tschechien weiterreicht?

Kohlenberger: So manche Rechtsaußenpartei spekuliert wohl darauf. Dabei sind Kettenabschiebungen verboten. Früher oder später landet man an einer Außengrenze. Wenn dort keine Asylanträge mehr entgegengenommen werden, käme das einer Abschaffung des Asylrechts gleich.

taz: Kritik kam auch von Polens Premier Tusk. Er sprach vom „faktischen Aussetzen des Schengen-Abkommens“.

Kohlenberger: Tusk als bekennender Europäer muss natürlich auf Schengen beharren. Aber es spielt auch eine Rolle, dass die meisten Zurückweisungen aus Deutschland im Vorjahr nach Polen und Tschechien stattfanden. Tusk weiß, dass die polnische Bevölkerung im Europavergleich sehr migrationsskeptisch ist.

taz: Die Ampelkoalition ist wieder zurückgerudert.

Kohlenberger: Dass so ein Vorschlag als ernsthafte Maßnahme ventiliert wird, zeigt, mit welchen diskursiven Verschiebungen wir es zu tun haben. Die Ampel hat sich treiben lassen, vom Wahlerfolg der AfD, aber auch von der CDU.

taz: Ungarns Premier Orbán hat angekündigt, Mi­gran­t:in­nen in Bussen nach Brüssel karren zu wollen. Reine Provokation?

Foto: F.: Vandehart Photography

Judith Kohlenberger arbeitet am Institut für Sozialpolitik der Wirtschaftsuniversität Wien. Sie zählt zu den anerkanntesten Flucht- und Mi­gra­ti­ons­for­sche­r:in­nen Österreichs.

Kohlenberger: Das ist direkt aus dem Playbook der neuen Rechten in den USA, zu denen Orbán beste Beziehungen pflegt. Er zeigt: Wir nehmen niemanden auf. Und: Sollen sich doch die liberalen Eliten in Brüssel darum kümmern. Sein Motiv ist das jüngste EuGH-Urteil gegen Ungarn vom Juni. Wegen fehlender Umsetzung der EU-Asylregeln muss Ungarn mehr als 200 Millionen Euro Strafe zahlen.

taz: In Österreich finden am 29. September Nationalratswahlen statt. Migration ist ein Hauptthema im Wahlkampf.

Kohlenberger: Wir sind es gewohnt, dass die österreichische Migrationsdebatte der deutschen im negativen Sinne voraus ist. Mittlerweile muss die FPÖ gar nicht mehr „Daham statt Islam“ plakatieren, weil diese Message bereits in der Mitte verfangen ist. Vielen Probleme werden negiert. Für die Überlastung der Schulen etwa werden syrische Flüchtlingskinder verantwortlich gemacht. Als ob es nicht seit Jahren einen Lehrermangel gäbe.

taz: Kommt es zu einer verschärften Migrationspolitik?

Kohlenberger: Ja, sowohl auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Das liegt auch daran, dass man Probleme wie Extremismus nicht angeht. Lösungsvorschläge, die über die „Einwanderungsfrage“ hinausgehen, liegen seit Langem auf dem Tisch. Stattdessen werden Probleme instrumentalisiert, um Asylrechte zu beschneiden.